1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Schwarze Flecken auf Chinas historischer Weste

28. September 2009

Am 1. Oktober 2009 feiert die Volksrepublik China ihr 60-jähriges Bestehen: als große Erfolgsgeschichte. Diese hat zwar auch ihre Schattenseiten. Doch eine historische Aufarbeitung findet im Reich der Mitte kaum statt.

https://p.dw.com/p/JsE0
Mao-Bild über dem Tiananmen-Platz (Foto:ap)
Schwebt unantastbar über allem: Chinas Mao Tse-tungBild: AP

60 Jahre Volksrepublik China – angesichts des Jahrestages am 1. Oktober beherrscht das Thema die chinesischen Medien. Die Geschichte wird dabei durchgängig positiv bewertet. Katastrophen werden genauso wenig erwähnt wie die zahlreichen politischen Kampagnen. Eine davon - der "Große Sprung nach vorn" zwischen 1959 und 1961 - kostete mindestens 30 Millionen Chinesen das Leben und wurde so zur größten von Menschen verursachten Hungersnot der Geschichte.

Privates und öffentliches Erinnern - ein himmelhoher Unterschied

Chinesische Bücher über die Kulturrevolution (Foto:ap)
Ein allzu kritischer literarischer Blick auf Chinas Geschichte bleibt unerwünscht.Bild: AP

Wie gehen Historiker mit den tabuisierten Phasen der Geschichte um? Im öffentlichen Raum herrscht strengste Kontrolle. Privat hingegen genießen die Intellektuellen weitgehende Freiheit. Der kritische Schriftsteller und Verleger Zhou Qing etwa leitete noch Mitte der 1990er Jahre eine Zeitung namens 'Historische Geschichten’. Jedoch, sagt Zhou, wurde diese ständig vom Staatsamt für Presse- und Publikationswesen überwacht. Seit dieser Zeit sei es verboten, über historische politische Kampagnen zu schreiben. Man dürfe auch keine Bücher publizieren, von denen eine negative Wirkung ausgehen könnte. Im privaten Bereich seien die Vorschriften dagegen längst nicht mehr so rigide.

Diskussionen nur im Netz

Chinesischer Student während der Kulturrevolution (Bild: dpa)
Bis heute fehlt in China eine öffentliche kritische Debatte über die KulturrevolutionBild: picture-alliance/ dpa

Der von Zhou Qing angesprochene "private" Bereich wird dabei immer größer - dank des Internets. Längst diskutieren städtische Chinesen der Zensur zum Trotz, etwa über die "Kampagne gegen die Rechtsabweichler" vom Jahr 1957. Damals wurden rund 500.000 Menschen in Gefängnisse oder Arbeitslager geschickt. Längst dienen die negativen Erfahrungen aus der Kulturrevolution in zahlreichen Diskussionsforen als abschreckendes Beispiel dafür, was man politisch nie wieder versuchen sollte: Eine Massenrevolution mit daraus folgender Diktatur der Massen.

"Die Führer der Chinesen sind unantastbar"

Derartige Diskussionen werden von Hochschulen in Ballungszentren wie Peking und Shanghai sogar gefördert. Doch gibt es immer noch klare Grenzen. Die Haltung der Behörden sei glasklar, sagt etwa die kritische Journalistin Dai Qing. Alle großen Führer seien unantastbar. Katastrophale Kampagnen wie die Kulturrevolution würden allmählich aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt, erzählt sie. Deshalb werde auch das Bildnis von Mao am Tiananmen-Tor niemals abgehängt. Denn Mao bleibe der große Führer des chinesischen Volkes. Für die chinesische Regierung, ist sich Dai sicher, gebe es da eine absolute Schmerzgrenze.

Unterhalb dieser "Schmerzgrenze" formiert sich seit Mitte der 1990er Jahre eine neue, intellektuelle Bewegung mit dem Ziel, die politisch verordneten Tabus zu überwinden: die Oral History-Bewegung, angetrieben von kritischen Journalisten und Autoren wie Dai Qing aus Peking oder Yang Xianhui aus Tianjin. Oft müssen sie aber mit Gegenwind rechnen.

Angst in den Knochen

Ein Polizist vor dem Portrait Mao Tse-tungs
Chinas Staatsmacht wacht über Maos AndenkenBild: picture-alliance / Newscom

So hat etwa der kritische Autor Zhou Qing aus Xi’an die Erfahrung gemacht, dass die Angst, die die Chinesen in den zurückliegenden 60 Jahren erfahren haben, ihnen noch immer tief in den Knochen sitze. 2004 versuchte er, Zeitzeugen des „Großen Sprungs nach vorn" von 1959 bis 1961 zu interviewen. Konkret ging es dabei um anormale Todesfälle, etwa durch Hunger. In jeder Provinz, erklärt Zhou, habe er fünf Personen interviewt. Doch vor allem in den Orten, wo die Hungerskatastrophe besonders heftig gewütet hatte, wage man bis heute noch nicht, frei darüber zu sprechen.

In der Provinz Henan etwa, wo ganze Dörfer durch die Hungersnot entvölkert wurden, habe er versucht, per Telefon einen Parteisekretär zu befragen. 15 Mal seien unterschiedliche Familienmitglieder am Apparat gewesen. Doch niemand habe sich getraut, über die Vergangenheit zu reden.

Autor: Shi Ming
Redaktion: Thomas Latschan