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Schrumpft Deutschland doch nicht?

Sabine Kinkartz, Berlin23. Mai 2016

Wir werden weniger und wir werden älter – auf dieser Prognose fußt die deutsche Politik. Das Institut der deutschen Wirtschaft zweifelt das an. Welche Rolle spielen die Flüchtlinge?

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Deutschland Fußgängerzone in München. Foto: Stephan Jansen dpa/lby
Bild: picture alliance/dpa/S. Jansen

Wie viele Menschen leben in Deutschland? Wie viele von ihnen sind wie alt? Was bedeutet das für die Entwicklung der Bevölkerung? Für den Wohlstand und die Wirtschaftskraft? Wie viele Kinder werden in den kommenden Jahren zur Welt kommen? Bei der Beantwortung solcher Fragen hilft das Statistische Bundesamt, genauer gesagt, die "koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung". Sie liegt derzeit in der 13. Fassung aus dem Frühjahr 2015 vor. Danach leben derzeit knapp 82 Millionen Menschen in Deutschland.

Die amtlichen Bevölkerungsforscher gehen davon aus, dass Deutschland in den kommenden fünf bis sieben Jahren weiter wachsen, die Einwohnerzahl anschließend aber kontinuierlich abnehmen wird. Je nach Ausmaß der Zuwanderung sollen den Berechnungen zufolge im Jahr 2060 maximal 73 Millionen Menschen in Deutschland leben. Das aber nur "bei stärkerer Zuwanderung", heißt es in der Vorausberechnung. Im schlimmsten Fall könnte die Einwohnerzahl auch auf knapp 68 Millionen sinken.

IW: Deutschland wächst

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) stellt diese Zahlen nun in Frage und geht dabei von folgender Datenlage aus: Mehr als eine Million Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen. Auch 2014 lag die Zuwanderung mit unter dem Strich 550.000 Menschen deutlich höher als in den Vorjahren. Binnen zwei Jahren verzeichnete Deutschland somit gut 1,6 Millionen neue Bürger. Darin nicht enthalten sind jene 300.000 bis 400.000 Flüchtlinge, die zwar schon 2015 nach Deutschland gekommen sind, ihre Asylanträge aber erst in diesem Jahr stellen werden.

Infografik Entwicklung Bevölkerung Deutschland bis 2035. Copyright: DW

Aktuell rechnet die Bundesregierung für die Jahre 2015 bis 2020 mit einem Zuzug von 3,6 Millionen Flüchtlingen. Hinzu kommen noch die üblichen Migranten in den Arbeitsmarkt und in Universitäten und Hochschulen. "Auch ohne die Flüchtlingsbewegung bleibt Deutschland – nicht zuletzt dank seine robusten Arbeitsmarktes – weiterhin ein attraktives Zuwanderungsland", sagt IW-Geschäftsführer Hans-Peter Klös. Selbst wenn ein Teil der Zugewanderten das Land wieder verlasse, werde die Zuwanderung noch eine ganze Weile hoch bleiben und den demografischen Wandel in Deutschland stark beeinflussen. "Anders als erwartet schrumpft die Bevölkerung in den kommen zwei Jahrzehnten nicht", so Klös.

Datenlage stärker berücksichtigen

Während das Statistische Bundesamt die aktuellen Zuwanderungszahlen bislang in seinen Szenarien für die Bevölkerungsentwicklung nicht berücksichtigt, hat das Institut der deutschen Wirtschaft die Zahlen in seine Prognose eingespeist und sie mit statistischen Modellen bis ins Jahr 2035 hochgerechnet. Danach kommt das Kölner Institut zu dem Ergebnis, dass Deutschland in dieser Zeit etwa acht Millionen neue Bürger aus dem Ausland dazu gewinnen wird. "Das sind etwa 2,2 Millionen mehr, als in der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes angenommen", erklärt Klös. Während das Bundesamt für das Jahr 2035 eine Bevölkerungszahl von knapp 78 bis 80 Millionen annimmt, geht das IW von rund 83 Millionen Menschen aus, die dann in Deutschland leben werden.

Infografik Bevölkerungsstruktur Männer Frauen Deutschland bis 2035. Copyright: DW

In einem allerdings sind sich die amtlichen Statistiker und die Wirtschaftsforscher einig: Die Bevölkerung altert und steht damit vor ernsten demografischen Herausforderungen. Während der Anteil der über 67-jährigen 1990 noch bei rund zwölf Prozent lag, hat er sich 2015 auf knapp 19 Prozent erhöht. "Auch die derzeit hohe Zuwanderung kehrt die Alterung der Gesellschaft bis zum Jahr 2035 nicht um", warnt Hans-Peter Klös. Zwar sind die meisten Migranten jung, zahlenmäßig reichen sie aber nicht die geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1969 heran. Deswegen werde das Durchschnittsalter in der Bevölkerung in den nächsten Jahren auf 48 Jahre steigen.

Forderungen an die Politik

Für die Forscher ergeben sich aus den Ergebnissen ihrer Bevölkerungsprognose durchaus Konsequenzen. "Diese gravierende Abweichung müssen Politiker und Entscheider berücksichtigen, wenn sie zum Beispiel Infrastrukturen planen oder über den Wohnungsbau und die Arbeitsmarktpolitik nachdenken", so Hans-Peter Klös. Wichtig sei vor allem auch eine schnelle Integration der Zuwanderer in den Arbeitsmarkt. Das koste zunächst zwar viel Geld, weil Lebensunterhalt, Sprachkurse, Willkommensklassen, Berufsvorbereitung und Nachqualifizierung bezahlt werden müssten. Langfristig würden die öffentlichen Haushalte aber entlastet.

Eine weitere Forderung ergibt sich aus der Alterung der Gesellschaft und betrifft die Rentenkassen. Alle sollen möglichst lange arbeiten, die Lebensarbeitszeit müsse an die Lebenserwartung gekoppelt werden. Da im Ergebnis weniger Menschen für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden, müsse die Politik zudem mehr dafür tun, um genügend Fachkräfte auszubilden.