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Literatur

Schriftsteller Sarr: Afrika neu erfinden

Georges Ibrahim Tounkara
29. November 2021

Mohamed Mbougar Sarr ist Goncourt-Preisträger 2021. Wie aktuelle Ereignisse sein Schreiben beeinflussen und welche Zukunft er sich für Afrika wünscht, erzählte er im DW-Interview.

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Portrait von Mohamed Mbougar Sarr.
Mit 31 Jahren ist Mohamed Mbougar Sarr einer der jüngsten Goncourt-PreisträgerBild: THOMAS SAMSON/AFP

Als erster Autor aus Subsahara-Afrika wurde Mohamed Mbougar Sarr in diesem Jahr mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis ausgezeichnet, dem Prix Goncourt. Der 31-jährige Senegalese hat mit "La plus secrète mémoire des hommes" (auf Deutsch: "Die geheimste Erinnerung der Menschen") einen Literaturkrimi geschrieben: Sarr erzählt von einem jungen senegalesischen Schriftsteller, der in Paris ein legendäres Buch aus dem Jahr 1938 entdeckt. Er begibt sich auf die Spuren des Autors, der auf mysteriöse Weise verschwunden ist.

"La plus secrète mémoire des hommes" ist bereits Sarrs vierter Roman. In Frankreich, seinem derzeitigen Wohnsitz, ist er schon lange kein Unbekannter mehr und konnte in den vergangenen Jahren schon einige Preise mit nach Hause nehmen. In seinen Büchern geht es oftmals um aktuelle Themen: Rassismus und Diskriminierung oder das Verhältnis Afrikas zu Europa, insbesondere zu Frankreich. Die DW sprach mit dem dem Autor u. a. über sein aktuelles Buch, afrikanische Literatur und die französisch-afrikanischen Beziehungen.

DW: Mohamed Mbougar Sarr, was bedeutet der Preis für Sie? 

Mohamed Mbougar Sarr: Es ist eine große Freude, eine literarische Auszeichnung zu erhalten, die nicht nur im französischsprachigen Raum, sondern auch weltweit eine der renommiertesten ist. Ich bin froh, dass ich dieses Buch geschrieben habe.

Portrait von Mohamed Mbougar Sarr und Macky Sall. Sie halten die Urkunde über den "Nationalen Löwenorden" in die Kamera.
Präsident Macky Sall (r.) würdigt Sarr mit dem "Ordre national du Lion", Senegals höchster AuszeichnungBild: THOMAS SAMSON/AFP

Es wird viel darüber gesprochen, dass ich der erste Preisträger aus Subsahara-Afrika bin und obendrein noch einer der jüngsten überhaupt. Und es wird viel darüber gesprochen, dass das ein Signal für den frankophonen Raum sein soll. Das ist wahr und hat zweifellos einen Sinn oder wird auch in den nächsten Jahren einen Sinn haben. Aber ich denke, man muss zuerst literarische Fragen stellen: also das Buch lesen, darüber sprechen und herausfinden, was für einen literarischen Wert dieses Buch hat.  

Welche Fragen werfen Sie in Ihrem Roman auf? 

Da ist zunächst die Frage nach dem Schreiben, nach dem Geheimnis des Schreibens und zu unserer Motivation, uns mit Literatur zu beschäftigen. Dann gibt es natürlich die Frage, warum Schriftsteller manchmal schweigen, und die Frage nach der Rezeption afrikanischer Schriftsteller im westlichen Raum.

All diese Fragen behandle ich im Rahmen einer echten Geschichte. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein junger senegalesischer Schriftsteller, Diégane Latyr Faye, der sich auf die Spuren eines verschwundenen Schriftstellers, TC Elimane, macht. Alle seine Bücher drehen sich um seine Suche nach diesem legendären Schriftsteller, der vor 80 Jahren verschwand. Er taucht tief ein in die Geschichte, sucht ihn auf drei Kontinenten, beschäftigt sich mit Kolonialismus, stellt Fragen zum Holocaust und hinterfragt den Stellenwert des Schreibens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

In diesem Jahr ging der Literaturnobelpreis an einen afrikanischen Autor, an Abdulrazak Gurnah aus Tansania. Erlebt die afrikanische Literatur derzeit eine Renaissance?

Ich denke, dass die Literatur in Afrika nie aufgehört hat, zu leben und sich zu verbreiten. Es war für sie vielleicht nicht immer einfach, aber sie war immer da. Was man allerdings an dieser Stellen anmerken kann, ist das Fehlen einer starken Kulturpolitik, die Literatur mehr in den Vordergrund rücken, sie mehr fördern und die Bedeutung des Lesens und der Kultur verstärken könnte.

Allgemein gesagt: Afrikas Schriftsteller haben nie aufgehört zu schreiben und wichtige Werke zu produzieren. Man sollte nicht in die Falle tappen zu denken, nur weil sie plötzlich international anerkannt wird, hätte die afrikanische Literatur plötzlich begonnen, zu existieren und eine Renaissance erlebt. Vielleicht sollte der [afrikanische] Kontinent auch internationale Literaturpreise haben, die nicht nur afrikanische, sondern Schriftsteller aus der ganzen Welt auszeichnen.

Sie verfolgen zweifellos die Nachrichten in Afrika. Gibt es Themen, die Sie im Moment besonders beschäftigen?

Ich war sehr interessiert an den Ereignissen rund um den diesjährigen Afrika-Frankreich-Gipfel. Ich war Teil der Kommission, die sich mit dem Fall von Achille Mbembe beschäftigt hat [kamerunischer Historiker, gegen den Antisemitismus-Vorwürfe und Vorwürfe der Relativierung des Holocausts erhoben werden. Er soll zudem das Existenzrecht des Staates Israel infrage stellen. Anmerk. der Red.]. Ich verfolge generell die Entwicklungen zwischen Frankreich und seinen ehemaligen französischen Kolonien. Sie kommen nur langsam in Gang. Es sind jetzt unabhängige Staaten, sie müssen an Souveränität, Macht und auch Würde gewinnen.

Im Hinblick auf die französisch-afrikanischen Beziehungen gibt es Stimmen, die dazu drängen, die "Nabelschnur" zu Frankreich zu kappen. Was sagen Sie dazu? 

Ich höre mir all diese Stimmen an. Auch jene, die dazu aufrufen, diese Beziehungen radikal in Frage zu stellen. Man muss sie anhören. Aber es gibt auch andere, die dazu aufrufen, Afrikas Beziehung zur Welt neu zu definieren. Frankreich darf nicht das gesamte Denken beherrschen. Wir sollten uns auf die gesamte Welt konzentrieren. Der afrikanische Kontinent ist Teil dieser Welt und wir sollten uns nicht nur auf Frankreich fixieren. Diesen Kampf nehme ich an und setzte mich für mehr Souveränität für unsere Länder ein.

Mohamed Mbougar Sarr tritt aus dem Paris Restaurant heraus, in dem die Feierlichkeiten zur Preisverleihung stattgefunden haben.
Mohamed Mbougar Sarr nach Bekanntgabe des "Goncourt" am 3. November 2021Bild: BERTRAND GUAY/AFP

In diesem Kampf gibt es mehrere Ansätze: Einige suchen den Dialog, um die Beziehungen wieder ins Gleichgewicht zu bringen, andere sagen, man solle den Dialog beenden. Das sind zwei Positionen, aber es gibt auch Zwischenpositionen, die man respektieren muss. Ich glaube, dass wir nur dann etwas erreichen können, wenn wir all diese Stimmen in Einklang bringen. 

In einem Kampf gibt es immer radikalere Gruppen, die neben gemäßigteren stehen. Diese beiden Gruppen können durchaus verfeindet sein, verfolgen aber im Grunde genommen die gleichen Ziele.

Ich möchte noch hinzufügen, dass Afrikaner - egal, wo auf der Welt sie leben -, zuallererst vom afrikanischen Kontinent Respekt erfahren müssen: Zunächst müssen unsere politischen Eliten viel mutiger und menschlicher gegenüber ihrer Bevölkerung werden. Dann wird auch der Rest der Welt dem afrikanischen Kontinent mit mehr Respekt begegnen. Wir müssen uns auch um die korrupten politischen Eliten kümmern, um jene, die wenig für ihre Bevölkerungen tun, und um diejenigen, die sich an der Macht halten wollen, und um jene, die töten. All das ist zu berücksichtigen.

Das Interview führte Georges Ibrahim Tankara. Adaption aus dem Französischen von Annabelle Steffes-Halmer.