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War es Mord?

Astrid Prange8. April 2013

War es Mord? Mit der Exhumierung des chilenischen Literaturnobelpreisträgers Pablo Neruda soll dessen umstrittener Tod aufgeklärt werden. Das Ergebnis könnte den Wahlkampf in seiner Heimat beeinflussen.

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Pablo Neruda mit seiner Ehefrau Matilda in Stockholm, nachdem er den Literaturnobelpreis bekommen hat (Foto: Hulton Archive/Getty Images)
Bild: Getty Images

Muss Chile seine Geschichte umschreiben? Die Exhumierung von Pablo Neruda (1904 bis 1973) zwingt das südamerikanische Land, sich erneut mit seiner jüngsten Vergangenheit auseinanderzusetzen. Denn mit der wissenschaftlichen Untersuchung der sterblichen Überreste des Literaturnobelreisträgers, die am Montag (08.04.2013) begann, soll der Streit um die Todesursache endgültig geklärt werden.

Pablo Neruda starb am 23. September 1973, genau zwölf Tage nach dem Militärputsch durch Augusto Pinochet in Chile. Laut der bisher gültigen offiziellen Version war die Todesursache Krebs. Doch Nerudas ehemaliger Chauffeur Manuel Araya, der den Dichter ins Krankenhaus fuhr, bestreitet dies. Er ist sich sicher, dass der Nobelpreisträger und Regimekritiker im Krankenhaus mit einem schmerzstillenden Mittel vergiftet wurde.

Portrait von Manuel Araya (Foto: Getty Images/AFP)
Nerudas ehemaliger Fahrer Manuel Araya ist davon überzeugt, dass der Dichter ermordet wurdeBild: Getty Images/AFP

Die richterlich angeordnete Exhumierung soll nun den seit 40 Jahren schwelenden Mordverdacht aufklären. Nach Angaben des gerichtsmedizinischen Dienstes (Servício Médico Legal) in Santiago werden die Knochenreste des Dichters von einem internationalen Team aus Gerichtsmedizinern, Anthropologen, Biochemikern und Toxikologen untersucht. "Wir suchen nach Hinweisen, die Rückschlüsse auf eine Krankheit erlauben oder nicht", erklärt die Leiterin für gerichtsmedizinische Identitätsfeststellung, Marisol Intriago Leiva, der Deutschen Welle. Analysen nach so vielen Jahren seien "schwer, aber nicht unmöglich".

Auf der Suche nach der Wahrheit

Exhumierungen gehören in Chile zur Vergangenheitsbewältigung. Rund 30.000 Menschen starben oder "verschwanden" während der Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet vom 11. September 1973 bis 11. März 1990. Die Identifizierung von gefolterten und ermordeten Regimegegnern wurde von den Generälen bewusst erschwert. Noch immer sind nicht alle Opfer identifiziert, die schmerzhafte Suche der Angehörigen geht weiter.

"Die Wahrheit liegt in den sterblichen Überresten", sagt Alexandra Manescu, die im Auftrag vom Internationalen Komitee des Roten Kreuz die Familienangehörigen betreut. Sie ist die einzige Deutsche im Expertenteam. "Die Würde des Toten muss bewahrt bleiben", lautet einer ihrer Grundsätze. Das Leid der Familien sei nach 20 oder 30 Jahren oft genauso stark wie am Tag nach dem Tod, so Manescu, "auch wenn man es nicht sieht".

Auch für den zuständigen chilenischen Richter Mario Carroza ist es "das Entscheidende, zur Wahrheit vorzudringen, die ein großer Teil der Gesellschaft nicht kennt", wie er kürzlich in einem Interview mit der argentinischen Zeitung "Diario de Mendoza" bekannte. Carroza hatte bereits vor zwei Jahren die Exhumierung von Salvador Allende (1908 bis 1973) verfügt. Die gerichtsmedizinische Untersuchung bestätigte den Selbstmord des Ex-Präsidenten.

Zweifel an der Todesursache

Bei Pablo Neruda erhielten die Zweifel an der offiziellen Todesursache in den letzten zehn Jahren neue Nahrung. Neruda war in derselben Klinik in Santiago behandelt worden wie der ehemalige chilenische Präsident Eduardo Frei Montalva. Montalva, der in Chile von 1964 bis 1970 regierte, starb 1982 nach mehreren Leistenbruch-Operationen. Doch eine 2009 durchgeführte gerichtsmedizinische Untersuchung ergab, dass der Christdemokrat in Wirklichkeit mit Thallium und Senfgas vergiftet worden war.

Portrait von Salvador Allende (Foto: dpa)
Die sterblichen Überreste von Chiles Ex-Präsident Salvador Allende wurden 2011 exhumiertBild: picture-alliance/dpa

Radiojournalist Mario António Guzman von dem chilenischen Sender "Radio Cooperativa" hält den Mordverdacht im Falle Nerudas deshalb nicht für abwegig. "Ich glaube, an der Behauptung ist etwas dran", erklärt er im Gespräch mit der Deutschen Welle. In Chile sei die Verfolgung von Anführern aus dem politischen oder studentischen Umfeld eine bewusste Methode gewesen. "Die Unterdrückung war selektiv", so Guzman.

Politisches Erdbeben

Bei der Pablo Neruda Stiftung in Santiago steht man solchen Überlegungen eher skeptisch gegenüber. "Die Stiftung ist davon überzeugt, dass Neruda an Prostatakrebs gestorben ist", stellt Sprecher Carlos Maldonado klar. Falls die gerichtsmedizinische Untersuchung etwas anderes beweisen würde, prophezeit er dem Land ein politisches Erdbeben: "Das wäre ein brutaler Schlag für das Land", so Maldonado. Von allen Grausamkeiten, die von der Pinochet-Diktatur begangen wurden, wäre dies wohl eine der brutalsten.

16 Meter breites Herz aus roten und grünen Äpfeln vor dem Präsidentenpalast in Santiago (Foto: ap)
Verehrt und geliebt: Zum 100. Geburtstag Pablo Nerudas 2004 formten seine Anhänger vor dem Präsidentenpalast in Santiago ein 16 Meter breites Herz aus roten und grünen ÄpfelnBild: AP

Der Zeitpunkt von Nerudas Exhumierung ist politisch brisant. Denn Chile befindet sich mitten im Wahlkampf, im November dieses Jahres wird sowohl ein neues Parlament als auch ein neues Staatsoberhaupt gewählt. "Wenn sich herausstellen sollte, dass Neruda zu den ersten Opfern der Diktatur zählt, wird sich dies auf die Wahlen auswirken", ist sich der Journalist Guzman sicher. Viele Regierungsmitglieder müssten sich darauf gefasst machen, dass ihre Haltung zur Militärdiktatur hinterfragt würde.

In den sterblichen Überresten von Chiles berühmtestem Dichter steckt also weiterhin eine enorme politische Sprengkraft. Vielleicht rüttelt der Nobelpreisträger erneut die lateinamerikanische Seele auf und schreibt die jüngste Geschichte seiner Heimat um.