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Die zweite Corona-Welle rollt

Elena Barysheva
2. Dezember 2020

Russische Ärzte und Rettungssanitäter vergleichen ihren Dienst mit der ersten Corona-Welle im Frühjahr. Sie erzählen der DW, wie es heute um ihre Arbeitsbedingungen, Schutzkleidung und versprochene Zulagen steht.

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Russland Krasnodar | Coronavirus | Klinik, Schutzanzug
Bild: Dmitry Feoktistov/Tass/dpa/picture-alliance

Bereits im Frühjahr hat die DW mit Medizinern aus Russland über die Schwierigkeiten gesprochen, mit denen sie während der Pandemie konfrontiert sind. Damals klagten viele über einen Mangel an Schutzkleidung und ausstehende staatliche Zulagen für die Arbeit mit COVID-19-Patienten. Inmitten der zweiten Coronavirus-Welle hat sich die DW erneut mit ihnen in Verbindung gesetzt und gefragt, welche Veränderungen es gibt und wie sie sich auf die Ärzte, Sanitäter und Krankenschwestern auswirken. Da einige aus Furcht vor ihrer Entlassung anonym bleiben wollen, wurden ihre Namen von der Redaktion geändert.

"Rund um die Uhr werden Patienten mit dem Krankenwagen eingeliefert"

Igor (Name geändert), Radiologe in Twer:

"Die zweite Welle verläuft vor allem mit Blick auf die Emotionen und Empfindungen der Menschen anders. Zum Beispiel geraten jetzt Menschen in Panik, denen das Coronavirus während der ersten Welle noch egal war. Oder das Gegenteil. Andere arbeiten jetzt wie verrückt und stehen allem gleichgültig gegenüber. Ich gehöre zu den letzteren, ich war selbst vor kurzem erkrankt.

Es gibt in der Tat viel mehr Patienten. Wenn ich mir die Warteschlange für eine Computertomographie ansehe, dann frage ich mich: Wohin wird man all die Leute danach bringen? In unserer Stadt gibt es keine freien Betten mehr. Hier nur ein Beispiel: Es dauert eine Stunde und vierzig Minuten, bis sich die Röntgenröhre abkühlt. In der Nacht hatte sie sich kein einziges Mal abgekühlt. Rund um die Uhr werden Patienten mit dem Krankenwagen eingeliefert, vor allem aus dem Umland. Manchmal sind es drei oder fünf Personen auf einmal.

Coronavirus in russland Moskau Patient im Krankenwagen
Ein Krankenwagen bringt einen Patienten in eine Moskauer KlinikBild: picture-alliance/dpa/Tass/S. Bobylev

Wie im Frühjahr versprochen, wurden für unser, aber auch für andere Krankenhäuser Computertomographen angeschafft. Doch es gibt ein anderes Problem: Es gibt nicht genügend Radiologen, die eine Diagnose stellen können. Zum Beispiel wurde nach Wyschni Wolotschjok (eine Stadt im Gebiet Twer - Anm. der Red.) ein Computertomograph geliefert, aber der örtliche Chefarzt zerstritt sich mit dem einzigen Radiologen in der Stadt. Und dieser kündigte natürlich. Jetzt müssen sie die Aufnahmen irgendwie selbst machen und bringen die Patienten dann ins regionale Krankenhaus, wo die Aufnahmen erneut analysiert werden. Patienten werden also hin und her gefahren.

Es ist zwar ausreichend Schutzkleidung vorhanden, aber man sieht, dass ihre Qualität nachlässt. Vielleicht wird beim Einkauf gespart oder es handelt sich um importsubstituierende Ware. Ich weiß es nicht. Aber es kommt vor, dass schon nach einer Stunde bei den Schutzanzügen die Nähte auseinander gehen.

Zulagen für die Arbeit mit Coronavirus-Patienten gibt es, aber die Regeln wurden hundertmal geändert. Es ist unklar, wie viel einem am Ende zusteht. Generell sind die Zulagen ein schmerzliches Thema, nicht nur für die Ärzte selbst, sondern auch für die Krankenhausverwaltungen. Ich war mal kurz als Abteilungsleiter tätig und habe bei Besprechungen zugehört. Alles läuft auf folgende Anweisung hinaus: Zulagen sind obligatorisch, aber das Geld müsst ihr selbst auftreiben."

"Ich hatte meinen Lebensmut verloren"

Anna Konowalowa studiert Medizin. Als freiwillige Krankenschwester arbeitete sie eine Zeit lang in einer Moskauer Klinik für Infektionskrankheiten.

"Ich habe das Krankenhaus Ende Juni verlassen müssen. Alle Freiwilligen mussten gehen. Man sagte uns, die Arbeitsbelastung habe sich für das Personal verringert und es bestehe kein Bedarf mehr. Ich habe den Eindruck, dass das Freiwilligen-Programm einfach gekippt wurde, obwohl es zu wenig Personal gibt. Wir sind noch einige Male inoffiziell dorthin gefahren und haben mitgeholfen.

Anna Konowalowa Krankenschwester im DW Interview
Anna Konowalowa will Ärztin werdenBild: Privat

Wenige von unserer Universität waren in der 'roten Zone'. Daher gibt es gewisse Diskrepanzen was die Wahrnehmung der Pandemie betrifft. Ich vermisse die Abteilung und die Arbeit. Von mir aus könnte ich auch jetzt dort weiterarbeiten. Aber es ist unrealistisch, dies mit dem Studium zu vereinbaren.

Auch eine Psychotherapie hat mich viel Kraft gekostet. Ich bin zu einem Therapeuten gegangen, als ich meinen Lebensmut vollkommen verloren hatte. Die Menschen, die Verluste in den Familien tun einem sehr leid. Ich habe auf der Intensivstation gearbeitet, wo es nicht so viele Genesene gab, eher im Gegenteil. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf meine Berufswahl. Ich liebe Menschen und bin froh, dass ich etwas für sie tun kann. Ich möchte gerne Lungenärztin werden, das ist ein sehr interessantes Gebiet."

"Am Morgen steige ich ins Auto, erst am nächsten Morgen steige wieder ich aus."

Dmitrij Serjogin, Rettungssanitäter in Orjol:

"Die zweite Welle ist für mich schwieriger, weil es immer mehr Patienten gibt. Besserung ist noch nicht in Sicht. Das Gesundheitswesen schafft das nicht. Was die Anzahl freier Betten in Krankenhäusern angeht, ist die Region Orjol eine der Regionen des Landes, die mit am schlechtesten dasteht. Das wurde sogar bei einem Treffen mit dem Präsidenten zugegeben. Über 95 Prozent der Betten sind belegt. Wenn es in der Stadt keine freien Betten mehr gibt, werden die Patienten in das 30 Kilometer entfernte zentrale regionale Krankenhaus gebracht. Seit dem 1. Dezember wird das gesamte Notfallkrankenhaus für die Behandlung von COVID-19-Patienten umfunktioniert.

Patienten mit Fieber bekommen nur in einem Krankenhaus eine Röntgen- oder Computertomographie-Untersuchung, sonst nirgendwo. Und in den Krankenhäusern sind die Betten knapp. Es ist ein Teufelskreis. Wenn es einem nicht so schlecht geht, soll man zu Hause sitzen und rätseln, was man haben könnte. Man kann auch selbst ins Krankenhaus fahren, wird dann aber lange warten müssen.

Ich ruhe mich im Prinzip nicht wirklich aus. Morgens steige ich ins Auto und erst am Morgen des nächsten Tages steige ich wieder aus. Auch am 1. Januar werde ich arbeiten. Dennoch hat keiner der Notärzte gekündigt. Aber ich habe gehört, dass es in den Kliniken Kündigungen gab. Nicht alle Ärzte können hundert Notrufe pro Tag verkraften. Ich lebe weiterhin mit meiner Freundin zusammen, zu der ich im März während der ersten Corona-Welle gezogen bin, um meine älteren Familienangehörigen vor einer Infektion zu schützen. Meine Eltern habe ich erst am Ende des Sommers wiedergesehen. Ich war selbst am Coronavirus erkrankt, aber sie brachten mir Essen, aus sicherer Entfernung.

Coronavirus in Russland
Desinfektion in einer der Moskauer MetrostationBild: Artyom Geodakyan/TASS/dpa/picture-alliance

Die Probleme mit den Coronavirus-Zulagen für Ärzte haben wir so gut wie gelöst. Die Behörden haben uns dabei geholfen. Ich bin Mitglied der Gewerkschaft 'Dejstwije' ("Aktion" - Anm. der Red.), die viele Beschwerden an die Staatsanwaltschaft und an das Ermittlungskomitee gerichtet hat. Als bekannt wurde, dass wir bei den Zulagen helfen, sind immer mehr Ärzte unserer Gewerkschaft beigetreten. Ihre Anzahl in der Region Orjol hat sich mehr als verdoppelt.

Ich freue mich sehr auf den Impfstoff und den Moment, wo er die dritte Testphase besteht. Mir wurde nicht angeboten, mich freiwillig zu melden, aber das würde ich auch nicht tun. Da bin ich pragmatisch. Dies ist immerhin ein medizinisches Präparat und ich bin nicht gerade heiß darauf, Testperson zu sein. Ich habe noch Antikörper im Blut. Sobald die Massentests beendet sind und die Wirksamkeit des Impfstoffs bewiesen ist, werde ich mich voll dafür einsetzen."

"Zulagen stehen uns zu, aber sie sind gering"

Walentin (Name geändert), Arzt im regionalen Krankenhaus in Kostroma:

"Im Vergleich zur ersten Welle gibt es nicht so viele Veränderungen. Erst jetzt ist die Abteilung voll mit COVID-Patienten. Sie sollen so früh wie möglich entlassen werden. Außerdem gibt es keine pädiatrische Kardiologie, Hämatologie, Allergologie in der Stadt und in der Region. Diese Ärzte arbeiten ambulant in einer Poliklinik. Stationär können solche Patienten nicht behandelt werden.

Wir haben endlich Schutzkleidung erhalten. Aber viele Mitarbeiter sind trotzdem erkrankt. Offiziell stecken sie sich überall an, nur nicht am Arbeitsplatz. Am häufigsten wird der öffentliche Nahverkehr genannt.

Zulagen stehen uns zu, aber sie sind gering. Berechnet wird die Kontaktzeit zu einem Corona-Patienten, beginnend mit dem positiven Ergebnis eines Abstrichs. Dass ich eine ganze Woche vorher schon mit ihm zu tun hatte, interessiert niemanden. Kurz gesagt, während der gesamten Pandemie habe ich etwa 3000 Rubel (umgerechnet rund 33 Euro) an Zulagen bekommen. Die Stimmung unter vielen Ärzten wird daher von Gleichgültigkeit bestimmt. Ich habe aufgehört, Angst vor Patienten mit dieser Infektion zu haben. Ich habe mich an sie gewöhnt."

Adaption: Markian Ostaptschuk