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Politik

Kinderfreizeit im Internierungslager?

Juri Rescheto
24. November 2020

Der Nachbau eines finnischen Internierungslagers für russische Zivilisten aus dem Zweiten Weltkrieg sorgt in Russland für Aufruhr. Kinder sollen dort den Alltag der Häftlinge nacherleben können. Aus Моskau Juri Rescheto.

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Russland | KZ-Nachbau in Karelien
Bild: Natalia Abramova/DW

Holzbaracken, Wachtürme, Stacheldrahtzaun - das sind Reste der Filmkulissen von "Vesuri". Der Film spielt im Zweiten Weltkrieg in einem finnischen Internierungslager in Karelien, einer in den 1940er Jahren zwischen Finnland und der damaligen Sowjetunion umkämpften Region. Das Kriegsdrama wurde 2018 im russischen Norden gedreht. Aber anstatt danach die nicht mehr genutzten Bauten zu verschrotten, beschloss die gemeinnützige russische Stiftung "Otkrytye vozmozhnosti" (zu deutsch: "Offene Möglichkeiten") daraus einen Themenpark zu machen - mit finanzieller Unterstützung des russischen Staats.

Die Bauten wurden auf das Gelände eines Erholungszentrums im nordrussischen Dorf Vatnavolok gebracht. Dort sollen demnächst russische Kinder so genannte "patriotische Wochenenden" verbringen. Mit dem Ziel, das Leben minderjähriger russischer Gefangener in einem finnischen Internierungslager kennenzulernen.

Finnische Gefangenenlager in Karelien

Solche Lager für sowjetische Zivilisten gab es tatsächlich im Zweiten Weltkrieg. Sie wurden zwischen 1941 und 1944 von finnischen Besatzungstruppen in der an Finnland grenzenden Sowjetrepublik Karelien errichtet. Bis 1944 waren Finnland und Nazideutschland Verbündete - mit einem gemeinsamen Feind: der Sowjetunion. "Die Niederlage der UdSSR schien eine beschlossene Sache, darum begann die finnische Militäradministration der besetzten Gebiete die Vorbereitung zur Annexion des sowjetischen Kareliens," schreibt der finnische Historiker Antti Kujala von der Universität Helsinki im "Russky Sbornik", einer Schriftensammlung internationaler Wissenschaftler zur russischen Geschichte.

Finnland Sowjetunion Winterkrieg Panzer
Ein aufgegebener sowjetischer Panzer in Karelien - Zwischen 1939 und 1944 war die Region zwischen Finnland und der Sowjetunion heftig umkämpftBild: ullstein bild

Die Karelen waren eine nationale Minderheit in der Sowjetunion, sie sollten nach der geplanten Annexion Kareliens durch Finnland später finnische Staatsbürger werden. Russen, Belarussen, Ukrainer und alle anderen Völker, die ebenfalls in den besetzten Gebieten Kareliens lebten, sollten nach dem Krieg nach Russland deportiert werden. Rund 25.000 von ihnen wurden deshalb in solchen Lagern interniert. 

"Kaum jemand weiß das heute noch", beschwert sich Natalia Abramowa von der Stiftung "Offene Möglichkeiten", die Initiatorin des Themenparks, gegenüber der DW. "Schon gar nicht unsere Kinder. Es ist aber sehr wichtig, gerade den Kindern diese Geschichte zu erzählen." Dass kaum jemand von den finnischen Lagern weiß, verwundert nicht, wurden doch die Unterlagen darüber jahrzehntelang geheim gehalten. Erst vor einem Jahr hat der russische Inlandsgeheimdienst FSB sie für die Öffentlichkeit freigegeben. 

Russische Kinder in einem finnischem Lager
Russische Kinder in einem finnischen Lager im ostkarelischen PetrosawodskBild: picture-alliance/akg-images

Streit um die Deutungshoheit

Die Veröffentlichung und das nun bekannt gewordene Projekt "Patriotisches Wochenende" haben in russischen Medien bereits viel Staub aufgewirbelt. Eine russische Untersuchungskommission will prüfen, ob es sich beim Umgang mit russischen Zivilisten im besetzten Karelien um einen Genozid gehandelt habe. Einige russische Medien sprechen gar von "finnischen Konzentrationslagern" auf sowjetischem Boden.  

Tatsächlich waren die Bedingungen in den finnischen Lagern absolut unmenschlich, sagt der in Helsinki lebende Historiker Antti Kujala gegenüber der DW. Rund 4300 internierte Zivilisten sind darin gestorben - die meisten an Krankheiten oder Unterernährung. Dennoch gebe es einen wesentlichen Unterschied zwischen den finnischen Camps und den Konzentrationslagern Nazideutschlands, "denn ihr Ziel war nicht die systematische Vernichtung von Häftlingen". 

Und so tobt der Meinungskrieg auch im Netz. Kritiker werfen den Organisatoren der "patriotischen Wochenenden" Sensationsgier und üble Stimmungsmache vor. Natalia Abramowa widerspricht: "Wir wollen keine feindliche Stimmung gegenüber unseren Nachbarn in Finnland aufkommen lassen, sondern lediglich die Tatsachen benennen. Wir erfinden nichts. Wir verzerren keine Fakten. Wir wollen Experten holen, die den Kindern erzählen sollen, wie es wirklich gewesen ist." Dabei handele es sich um Historiker und Augenzeugen, die mit den Kindern ihr Wissen und ihre Erinnerungen teilen würden. Aber auch "militärisch-patriotische Spiele" sollen Teil der "patriotischen Wochenenden" sein. In einem modernen Besucherzentrum neben den Holzbaracken soll zudem eine Begleitdokumentation laufen. 

Russland Junarmija in Krasnodar
Eine möglichst "patriotische" Erziehung Jugendlicher hat in Russland HochkonjunkturBild: picture-alliance/dpa/G. Zimarev

Unnötige Politisierung?

Auf den Vorwand der Kritiker, Kinder könnten viel zu jung für solche "Erlebnisse" sein, erwidert Abramowa, dass die "patriotischen Wochenenden" erst für Jugendliche ab 14 Jahren vorgesehen seien. Außerdem habe es in finnischen Lagern im Gegensatz zu den deutschen weder Gaskammern noch Massenerschießungen gegeben. Überhaupt werde die ganze Diskussion um das nachgebaute Lager gerade unnötig politisiert, beschwert sich die Stiftungsvertreterin. Es sei schließlich das Recht einer jeden Stiftung, sich mit dem Thema zu befassen, das ihr wichtig erscheint und gerade gefragt ist.

Genau das aber stört den unabhängigen Historiker und Publizisten Maxim Artemjew. Für ihn ist das Projekt in Karelien ein "kommerzielles Abenteuer", das der heutigen politischen Konjunktur in Russland entspricht und obendrauf "ein Versuch, an billiges Fördergeld zu kommen".

Der Historiker bezweifelt den Lerneffekt einer derartigen historischen Rekonstruktion. "Was sollen wir dabei lernen? Dass ein Teil unserer Bevölkerung während des Kriegs deportiert wurde? Natürlich war das eine Tragödie für diese Menschen. Aber wieso, weshalb, warum, das alles bleibt unerwähnt."

Russland Mahnmal für Opfer der Stalin-Ära in Karelien
Mahnmal im karelischen Sandarmoh für die russischen Opfer der Stalin-ÄraBild: picture-alliance/dpa/L. Martti Kainulainen

Verschobene Perspektive

Weiter kritisiert Artemjew im DW-Interview: "Das Projekt verschiebt die historische Perspektive und lenkt von den realen Problemen der vergangenen Geschichte ab." Zwar dürfe man verschiedene Tragödien nicht miteinander vergleichen: "Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass es gerade in Karelien unter Stalin auch eine Vielzahl von Lagern gab, die von der Sowjetregierung errichtet worden waren." Mit finnischen, vor allem aber mit oppositionellen russischen Strafgefangenen. Wichtiger als mit dem Finger auf andere zu zeigen, findet Artemjew, sei es, über die eigenen Lager für die eigene Bevölkerung zu erzählen.