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Meinungsfreiheit: "Es geht ums Prinzip"

Torsten Landsberg
23. Oktober 2020

Der islamistische Mordanschlag auf Samuel Paty schockt Frankreich. "Es kommt auf den Einzelnen an", so Romy Straßenburg, Ex-Chefredakteurin von "Charlie Hebdo".

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Frankreich Gedenken Charlie Hebdo | Je suis Charlie
Bild: picture-alliance/Hollandse Hoogte/J. van Gennip

DW: Frau Straßenburg, die Ermordung des Lehrers Samuel Paty in Paris liegt eine Woche zurück. Frankreich hat seiner in der Sorbonne mit einer Trauerfeier gedacht. Wie ist die Atmosphäre derzeit in Paris und Frankreich?

Romy Straßenburg: Die Trauerfeier war sehr berührend. Nicht unbedingt das ganze Prozedere mit der Republikanischen Garde, aber draußen vor der Sorbonne kamen viele Menschen zusammen, trotz Corona und Ausgangssperre, und haben geklatscht. Das war sehr emotional und furchtbar traurig.

Die Politik hat vorher Handlungsfähigkeit beweisen wollen und eine Moschee geschlossen, in der man radikale, islamistische Tendenzen vermutet. Ich glaube, es war aus politischer Sicht wichtig, die Menschen auch emotional mitzunehmen und mit dieser Trauerfeier ein starkes Zeichen zu setzen.

Macron steht bei der Gedenkzeremonie vor dem Sarg des ermordeten Lehrers Samuel Paty
Präsident Macron hielt bei der Gedenkzeremonie eine ergreifende Rede für den ermordeten Samuel PatyBild: Francois Mori/Reuters

Samuel Paty hat seinen Schülern Mohammed-Karikaturen aus der Satirezeitung "Charlie Hebdo" gezeigt, um sie darüber diskutieren zu lassen. Schulen, also Bildungseinrichtungen, sind ja ein Grundpfeiler der Demokratie. Wird die Ermordung eines Lehrers anders wahrgenommen als der Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" im Jahr 2015?

Es ist sehr deutlich, dass dieser aktuelle Anschlag eine besondere Qualität hat. Die Zukunft einer Gesellschaft hängt davon ab, mit welchen Werten die Kinder aufwachsen. Die Zeremonie hat diese Bedeutung unterstrichen: Ein Angriff auf einen Lehrer ist ein Angriff auf die Republik.

Paty hat das aus Überzeugung gemacht, weil er dachte, seine Schüler müssten damit konfrontiert werden, auch um für so etwas gewappnet zu sein und darüber stehen zu können. Es war die wochenlang durchdachte Unterrichtseinheit eines Lehrers, der sich für den Koran interessiert hat und auch sehr respektvoll mit seinen muslimischen Schülern umgegangen ist. Denen wollte er zeigen, was hier erlaubt und im Rahmen des Rechts ist.

Romy Straßenburg, Ex-Chefredakteurin der deutschen "Charlie Hebdo", schaut in die Kamera
Romy Straßenburg: Ex-Chefredakteurin der deutschen Ausgabe von "Charlie Hebdo" Bild: Frederike Wetzels

Laizität als Grundpfeiler

Liberté, die Freiheit, gilt in Frankreich als höchstes Gut. Ist dieser Grundgedanke gefährdet?

Ein Grundpfeiler der Republik ist die Laizität. Religion hat im öffentlichen Raum keinen Platz, was gerade an Schulen in Vierteln mit einem sehr großen Anteil muslimischer Bevölkerung ein Problem ist. Die treffen auf ein Schulmodell, das auf ganz anderen Grundfesten steht. Und dort sind die Lehrer natürlich an vorderster Front.

Die Laizität hing ursprünglich mit der katholischen Kirche zusammen, deren Einfluss es in der Republik einzudämmen galt. Es ist schwer zu vermitteln: "Leute, hier gab's mal Probleme mit der katholischen Kirche, die hatte zu viel Einfluss. Deswegen hat sich Frankreich entschieden, Religion und Staat zu trennen. Und das gilt jetzt auch für euch."

Das widerspricht dem muslimischen Verständnis von Religion, die einen festen Platz im Alltag einnimmt. Wenn Eltern dann das Gefühl haben, ihre Religion ist an der Schule nicht nur nicht erlaubt, sondern wird auch noch kritisiert, entsteht eine Spirale. Das zeigt, dass es in einigen Teilen der Bevölkerung ein ganz grundsätzliches Missverständnis gibt über die Rolle, die Schule zu spielen hat.

Das ist dann vielleicht eine Frage sozialer Akzeptanz auf beiden Seiten…

Ja, aus einer gewissen Enttäuschung über die nicht vorhandene Chancengleichheit heraus identifizieren sich viele stärker mit der Religion: Wenn ich schon sozial abgehängt bin, nicht die gleichen Chancen habe wegen meiner Hautfarbe, meines Namens, wegen meiner Religion, dann identifiziere ich mich stärker mit der Sache, für die ich hier sozusagen kritisch beäugt werde.

Und wenn sich die Leute, von denen ich glaube, dass sie mir gar keine Chancengleichheit einräumen, in meinen Augen auch noch über die Religion lustig machen, ist das eine explosive Mischung.

Würden wir die sozialen Aspekte alle wegnehmen, und wären Menschen mit muslimischen Wurzeln völlig gleichberechtigt in den Medien oder in der Wirtschaft, dann könnten sie, glaube ich, besonnener mit satirischen Darstellungen ihrer Religion umgehen. Weil sie diese mit einem anderen Selbstbewusstsein betrachten könnten.

Trugschluß vom Savoir-vivre in Frankreich

Sie leben als deutsche Journalistin und TV-Reporterin seit 13 Jahren in Paris. Wie hat sich Ihr Leben dort in den vergangenen Jahren verändert?

Diese Parole, die nach jedem Terroranschlag ausgegeben wird - "Wir lassen uns nicht unsere Art zu leben kaputtmachen, wir lassen uns nicht einschüchtern" - ist natürlich sehr wichtig und auch eine Motivation. Aber diese Anschläge hinterlassen Spuren und absurde Gedanken.

Meinen deutschen Freunden fällt schon auf, wie ich Leute scanne oder reagiere, wenn irgendwo ein verlassener Rucksack steht. Diese Idee, die ich immer hatte, bevor ich nach Frankreich gegangen bin, vom Land der Freiheit und des Savoir-vivre, die gibt es so nicht.

Ein Buchladen in Paris
Bunt gemischtes Kulturleben in den Passagen und auf den Boulevards von ParisBild: J.Demarthon/AFP/GettyImages

Viele Stadtviertel sind sehr international, es gibt ein buntes Miteinander, eine Moschee steht neben einer Synagoge. Aber es leben eben nicht alle frei und toll zusammen. Mit der großen Einwanderungswelle von Marokkanern, Tunesiern oder Algeriern hat sich die Gesellschaftsstruktur (in Frankreich, Anmerk.d.Red.) verändert und es gab von Anfang an Rassismus. Die sozialen Probleme gab es schon in den 1990er Jahren, die Erzählung von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit stimmte so nicht.

Jetzt wird wieder über den Schutz der Meinungsfreiheit diskutiert. Aber es hilft doch nicht, den Lehrer Samuel Paty als Helden zu bezeichnen oder "Je suis Charlie"-Shirts zu tragen, wenn in zwei Wochen wieder der Alltag einkehrt. Wie sehen Sie das?

Es ist immer angeregt worden, dass die Vermittlung der Meinungsfreiheit Teil des Unterrichts sein soll. Die Huldigung von Samuel Paty dient auch dem Zweck, dass die Lehrer sich ermutigt fühlen, weiterzumachen. Der Reflex liegt natürlich nahe, zu sagen: "Nee, ich lass das bleiben, ich bringe mich jetzt nicht in Gefahr."

Aber der Gefahr entgegentreten können wir eigentlich nur, wenn möglichst viele mitmachen und die Meinungsfreiheit verteidigen. Präsident Macron hat in seiner Rede gesagt: "Wir werden euch nicht alleine lassen, wir werden euch schützen." Aber ja, im Endeffekt kommt es dann immer wieder auf jeden einzelnen an.

Polizeibeamte vor der "Charlie Hebdo"-Redaktion
Verschärfter Polizeischutz vor der Pariser Redaktion der Satirezeitung "Charlie Hebdo"Bild: Gonzalo Fuentes/Reuters

"Sonst wird man wahnsinnig"

Sobald Menschen ihr Verhalten verändern, hat so eine Tat Einfluss auf die Gesellschaft. Sie kamen im Herbst 2016 zu "Charlie Hebdo", als Chefredakteurin der deutschen Ausgabe. Das war eineinhalb Jahre nach dem Angriff auf die Redaktion in Paris, bei dem zwölf Menschen ermordet wurden. In welchem Zustand hat sich die Redaktion damals befunden?

Die Idee, eine deutsche Ausgabe zu machen, hat viel über die Redaktion und ihren Zustand zu dem Zeitpunkt ausgesagt: Es war eher ein Blick nach vorne, sich nicht unterkriegen lassen.

In der Zeit ging es viel um Politik und weniger um Religion. Trotzdem war der Terror natürlich präsent, allein schon wegen des Polizeischutzes und der Sicherheitsmaßnahmen. Aber man gewöhnt sich an alles.

Ich musste auch diesen Respekt, den ich zum Anfang hatte, ein bisschen ablegen. Man kann nicht bei jedem Mittagessen mit den Kollegen darüber nachdenken, was sie überlebt haben, sonst wird man wahnsinnig.

Zuletzt war der Anschlag in der Öffentlichkeit präsent, weil der Prozess gegen 14 Unterstützer im September begonnen hat. Wie geht die Redaktion damit um?

Es lässt sich nicht vermeiden, dass "Charlie" durch den Prozess wieder symbolisch für die Pressefreiheit steht. Die Redaktion hat zum Prozessauftakt die Karikaturen noch einmal klein veröffentlicht, mit der Frage: "War es das wert?"

Menschen mit Mundnasenschutzmasken bei der Trauerfeier für den getöteten Lehrer Samuel Paty in Paris
Nach dem brutalen Mordanschlag: Frankreich in Trauer - und in Schockstarre (Foto: Trauermarsch in Marseille) Bild: Christophe Simon/AFP/Getty Images

Die Redaktion muss diese Last tragen. Diese verrückten, genialen, sehr talentierten Zeichner sind auf einmal in diese Position gekommen, ständig herangezogen zu werden als Garanten und die Verteidiger der Meinungs- und Pressefreiheit.

Es wird erwartet, dass sie sich ständig dazu positionieren und äußern. Und das nimmt natürlich so eine Leichtigkeit, die mit dem Metier des satirischen Karikaturisten zusammenhängt.

"Das ist es nicht wert"

Meinungsfreiheit wird auch durch Einschüchterung bedroht, weil sich Redakteure aus Furcht vor Anschlägen selbst zensieren könnten. Hat sich das bei "Charlie" auf die redaktionsinternen Debatten ausgewirkt?

Ja, fast jede Woche. Bei der Redaktionssitzung hingen alle Bilder an der Wand und es gab Momente, in denen Leute gesagt haben: "Das ist es nicht wert." Man weiß, welche Morddrohungen eingehen und hat gesehen, wie real sie sind. Auch der Chefredakteur hat damals auf die Verantwortung für seine Leute hingewiesen.

Und dann gibt es wieder Momente, wo es genau das Gegenteil war: "Das müssen wir machen, das ist unsere Verpflichtung. Wir haben doch nicht diesen Anschlag überlebt und weiter gemacht und stehen unter Polizeischutz, um dann nichts daraus zu machen." Und es gab diese gegenseitige Versicherung, etwas bringen zu müssen, weil wir es den Leuten, die gestorben sind, schuldig waren.

Titelseite Charlie Hebdo vom September 2020 mit dem Titel: "All das, nur dafür"
Titelseite der französischen "Charlie Hebdo"-Ausgabe vom 1. September 2020Bild: Getty Images/AFP

Dem Satiremagazin wurde häufig vorgeworfen, durch gezielte Provokationen zur Eskalation beigetragen zu haben. Worum geht es "Charlie Hebdo"?

Charlie Hebdo steht für Laizismus, Feminismus, Ökologie. Das sind die Kernthemen, was viele nicht wissen, weil sie die Texte nicht lesen, sondern nur die Bilder anschauen. Charlie wird immer auf das Thema Religion reduziert.

Natürlich gibt es Phasen, in denen man sagt: "Wenn wir jetzt den Islamismus ausklammern aus unseren Zeichnungen, dann geben wir klein bei." Aber das sind keine Leute, denen es darum geht, die krasseste Zeichnung zu veröffentlichen, um Leute zu verletzen.

Taten wie der Mord an Samuel Paty oder der Anschlag gegen "Charlie Hebdo" lassen die Menschen ratlos zurück. Woraus ziehen Menschen die Kraft, ihre Werte zu verteidigen und eben nicht einzuknicken?

Ich habe gerade auf einem Blog gelesen, solche Mohammed-Karikaturen müssten doch Kindern nicht gezeigt werden. Mir kam auch oft der Gedanke: "Muss das jetzt sein mit dieser oder jener Titelseite?" Ich finde ja auch nicht alle Sachen lustig oder besonders gelungen. Aber die Tatsache, ob man es jetzt mag oder nicht, sollte halt keine Rolle dabei spielen, ob man es machen darf oder nicht.

Deswegen stehe ich dann auch dahinter und verteidige es, obwohl ich sie vielleicht geschmacklos finde. Man kann sagen: "Ich kann nicht darüber lachen", aber nicht in Frage stellen, ob es existieren darf. Es geht gar nicht um "Charlie Hebdo" oder eine bestimmte Zeichnung. Es geht ums Prinzip. Einknicken, das geht einfach nicht.

 

Die deutsche Journalistin und Autorin Romy Straßenburg (Jg. 1983) lebt seit 13 Jahren in Paris. Sie war Chefredakteurin der deutschen "Charlie Hebdo"-Ausgabe, die im Dezember 2016 auf den Markt kam und ein Jahr darauf eingestellt wurde. 2019 erschien ihr Buch "Adieu liberté – Wie mein Frankreich verschwand". Sie moderiert aktuell das Kulturmagazin "Twist" auf ARTE.