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Irgendwann - der Knacks

17. Oktober 2008

Irgendwann im Leben ereilt er jeden: Der Knacks. Roger Willemsen hat ein Buch darüber geschrieben. Ein literarischer Essay über die Zeit und das, was sie mit uns macht. Willemsen - im Gespräch mit Gabriela Schaaf.

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Roger Willemsen (Quelle: dpa)
Studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Bonn, Florenz, München und Wien - Roger WillemsenBild: picture-alliance/ dpa

Gabriela Schaaf: Der "Knacks" – der Klang des Wortes ist hart und laut. Wie Sie ihn beschreiben ist er es aber gar nicht. Was kann der Knacks im Leben eines Menschen bewirken?

Roger Willemsen: Der Knacks ist die Stelle, an der sich ein Leben verlangsamt, die Richtung wechselt oder bricht. Der Knacks ist der Angriff der Zeit auf alles, was wir tun: Das Ausbleichen der Farben, das Nachlassen des Geschmacks, das allmähliche Trennen zweier Liebender in zwei Desinteressierte. All das sind Phänomene des Knackses. Eigentlich die Bewegungen, die von innen kommen…

…aber auch ein Prozess. Was ist der Knacks im Gegensatz zu einem Trauma? Sie trennen das ja auch in Ihrem Buch.

Das Trauma will nach Aussage der Psychoanalyse erinnert und wiederholt werden, um sich zu lösen. Der Knacks ist wie eine Falte, die irgendwann entstanden ist, die irgendeinen multikausalen Grund hat und sich immer weiter vertieft. Insgesamt ist es ein melancholischer, unausweichlicher Prozess der Resignation und Kapitulation. Er läuft irgendwie gegen die Prozesse des Optimismus, die in der Gesellschaft eine so große Rolle spielen: Öffentlichkeit wird in der Regel beansprucht für Phänomene der Lebenskraft, der Jugend. Und die meisten werden sagen: "Dazu gehöre ich nicht." Davon handelt das Buch.

Wir kennen das aus der Umgangssprache die Floskel: "Eine Beziehung hat einen Knacks bekommen". Können Sie an diesem Beispiel noch einmal ausführen, was der Knacks in einer Beziehung ist?

Denken Sie sich einen Zustand unbegrenzter Innigkeit zwischen zwei Liebenden. Eines Tages ist zum ersten Mal die Nacht da, in der sich die Liebenden voneinander wegwenden, wenn sie im Bett liegen und man hat das Gefühl, etwas dringt in diese Liebe ein, was auch noch Liebe ist, aber was auch etwas anderes. Man könnte jetzt sagen der Knacks breitet sich aus zu einem Geflecht, es ist plötzlich wie ein Craquelé, wie man es auf alten Vasen kennt, wo die Glasur tausendfach gesprungen ist. Das ist der Prozess, in den wir allmählich hineingeschleust werden.

Niemand ist vor einem Knacks gefeit. Was bedeutet so ein Knacks für unsere Biographien?

Es bedeutet, dass wir eine eigene Bedürftigkeit haben, auf die manchmal die Liebe reagiert, oder Bücher oder Melodien. Wir kennen das doch: Wir hören irgendetwas und wissen nicht, warum wir zu Tränen gerührt sind. Unter Umständen ist es die Antwort auf etwas, was wir als Notlage in uns tragen. Also ich glaube, Menschen kommunizieren untereinander sehr viel mehr über das, was ihnen fehlt, auch wenn sie es nicht direkt tun, als über die seltenen Triumphe oder die strahlenden Stunden des Optimismus.

Ist das vielleicht auch gerade die Chance, die so ein Knacks fürs Leben bietet, dass man sich auf einer ganz anderen Ebene begegnen kann?

Natürlich. Ich glaube die Anerkennung der Tatsache, dass wir ereilt sind von Gebrechlichkeit, von nachlassender Kraft, von all diesen Phänomenen, auch nachlassender Euphorie, die macht uns zu Sprachwesen und auch zu Leserinnen und Lesern. Sie macht uns empfänglich gegenüber Farben auf Gemälden. Also dieses Zuwenig im Leben ist irgendwie Motivation für uns…

…und es treibt uns weiter?

Ja. Und die Anerkennung dessen, dass es so ist, kann die Bewusstheit davon vertiefen. Das heißt, eigentlich kriegen wir mehr Leben, in dem Augenblick, in dem wir diese Mol-Töne einbegreifen und nicht ausgrenzen.

In Ihrem Buch gehen Sie aber noch weiter. Der Knacks findet nicht nur im individuellen Leben statt, sondern auch in der Gesellschaft, in der Natur, überall. Sie haben auch Tschernobyl als Beispiel genannt.

Tschernobyl war für mich fast eine kuriose Situation: Ich saß in meiner Wohnung und schrieb an einem Text, hatte kein Radio, keinen Fernsehen, eine Freundin ruft an und ich frage, was sie mache und sie sagt: "Wir gucken Tschernobyl." Also frage ich: "Und, ist es gut?" Darauf sie: "Naja, das kann man so jetzt nicht sagen." Ich frage: "Warum guckst du es dann? Ich guck's doch auch nicht." Und sie antwortet: "Ja, du nimmst ja gar nicht mehr an der Wirklichkeit teil." Da sage ich: "Das soll die Wirklichkeit sein?" Und so ging das Gespräch immer weiter, bis sie mir endlich sagte was Tschernobyl ist. Und ich sah draußen dann die Wiesen und die Kühe, die darauf nicht grasen durften und ich dachte, irgendetwas ist umgekippt. Und plötzlich sah man die Natur mit einem vollkommen andern Blick.

Der 11. September wäre dann wahrscheinlich auch so ein Datum, wonach man sagt: "Nichts ist mehr wie vorher und wird auch nie wieder so."

Ganz recht. Und das interessante am 11. September ist zum Beispiel, dass unmittelbar, nachdem er passierte, die Menschen noch nicht wussten, wie man sich dazu stellt. Da fand noch ein Champions-League-Spiel statt, da war noch eine politische Analyse darüber möglich, warum das World-Trade-Center Ziel war? Drei Tage später: Es gab keine Amusements mehr, die Trauer wuchs, der Schock wurde übermäßig bearbeitet. Und plötzlich war die politische Analyse verboten. Jeder, der nicht sagte "grauenhafte und durchgeknallte Muslime", wie der Spiegel schrieb, war irgendwie politisch inkorrekt. Aber sie haben recht: Solche Ereignisse nennt man in der Geschichte einen Knacks.

Wir haben schon gesagt, wo der Knacks in persönlichen Beziehungen produktiv werden kann. Aber der Knacks ist natürlich das, was Literatur beschreibt. Gute Literatur beschreibt doch genau die Stelle im Leben, die sich so schwer beschreiben lässt.

Ganz genau. Ich glaube wirklich, dass der Knacks eine der wichtigsten Motivationen zur Hervorbringung von Literatur ist. Und sie spricht unablässig davon. Die Helden der Literatur befinden sich dauernd in Zwangslagen. Sie fallen oft aus dem Leben heraus, sie merken plötzlich, dass sie nicht mehr dazugehören und müssen die Zeit weiterziehen lassen. Das ist eine der Linien, die die Literatur häufig bestimmt.

Warum haben Sie für Ihre Essays das unpoetische Wort Knacks gewählt?

Ich mochte dieses Wort sehr gerne, weil es nicht das Drama des "Bruchs" hat. Außerdem ist auch das, was ich meinte etwas, das viel leiser und feiner daher kommt. Insofern hat es sogar etwas Umgangssprachliches vom Knacks zu reden. Ich wollte nicht dem ganzen das Pathos einer lebensentscheidenden Sache geben. Sondern ich dachte, dieses stillschweigende Ausbreiten macht den Knacks aus.