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PolitikNahost

Riad, die Muslimbrüder und die Sorge ums Image

20. November 2020

Der saudische Rat der Religionsgelehrten, die höchste theologische Instanz des Landes, erklärt die Muslimbrüder zur "Terroristengruppe". Das könnte Kalkül sein. Denn Riad sorgt sich um seinen Ruf in der westlichen Welt.

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USA Washington | Mohammed bin Salmad während Treffen mit Jim Mattis im Pentagon
Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Owen

Der Rat der höchsten Religionsgelehrten sei "eine Organisation unterwürfiger Schmeichler". Mit entschiedenen Worten reagierte die Internationale Organisation der Muslimbrüder auf den jüngsten Vorstoß des saudischen Religionsrates. Der hatte in der vergangenen Woche selbst die Muslimbrüder scharf attackiert: Diese seien eine "Terrororganisation", die nicht den Islam repräsentiere. Die Muslimbrüder, so der saudische Rat weiter, seien eine "abweichlerische Gruppe". Aus ihr entstünden "extremistische Terroristengruppen, die Land und Leute zugrunde richten".

Er warne schon seit mehr als zwanzig Jahren vor der Terroristengruppe der Muslimbruderschaft, erklärte parallel dazu der saudische Minister für islamische Angelegenheiten, Abdullatif Al-Sheikh, dem Magazin "Arab Weekly" zufolge auf Twitter. "Ich fürchte um unsere Religion, unser Land, unsere Bürger und die Muslime insgesamt." 

Ägypten Kairo Urteilsverkündung gegen Mohamed Mursi
Erst im Präsidentenpalast, dann auf der Anklagebank: Mohammed Mursi, der 2013 gestürzte ägyptische Staatschef aus den Reihen der MuslimbrüderBild: picture-alliance/dpa/M. Hossam

Ein ambivalentes Verhältnis

Die saudische Staatsführung habe zu den Muslimbrüdern schon immer ein ambivalentes Verhältnis gehabt, sagt Politikwissenschaftlerin Madawi al-Rasheed vom Middle East Center der London School of Economics. "Die saudische Regierung bewegt sich seit jeher auf einem Kurs zwischen Kooperation und Einhegung. Mal hat sie mit den Musimbrüdern zusammengearbeitet, um den Islam zu verbreiten, dann wieder hat sie versucht, den Einfluss der Muslimbrüder im Königreich einzudämmen", so die Nahostexpertin im Gespräch mit der DW. "Letztlich zeichnen sich aber beide, das saudische Königreich ebenso wie die Muslimbrüder, durch ein totalitäres Weltbild aus. Dadurch sind sie immer wieder aneinandergeraten."

Für eine islamische Identität

Die Ursprünge der Muslimbrüder reichen zurück ins Ägypten der 1920er Jahre. Die Briten hatten das Land zwar 1922 für unabhängig erklärt, doch ihr Einfluss war weiterhin groß. Hassan Al-Bana, der Gründer der Bewegung, wollte sich in jener Zeit mit der kulturellen Vormachtstellung der Briten nicht abfinden. Diese, schreibt er, gefährde die ägyptische und muslimische Identität. Mit Gleichgesinnten rief er 1928 darum eine Gruppe ins Leben, die diesen Zustand überwinden wollte. "Wir sind Brüder im Namen des Islam", erklärte er. "Also sind wir die Muslimbrüder."

Von Anfang an war die Bruderschaft auch sozial aktiv: Ihre Mitglieder gründeten Bildungs- und Wohltätigkeitseinrichtungen, organisierten Versammlungen und Aufmärsche. In wenigen Jahren wurden sie zu einem der bedeutendsten islamistischen Verbände des Landes. Insbesondere seit der Regierungszeit von Gamal Abdel Nasser setzten sich fundamentalistische Tendenzen durch, formuliert von dem als "Vordenker" bekannten Journalisten Sayyid Qutb, der 1966 von einem ägyptischen Gericht zum Tode verurteilt und dann auch hingerichtet wurde.

Bis heute verstehen sich die Muslimbrüder als sozialrevolutionäre Kraft. Ihren Anspruch, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, zeigten sie, als einer der ihren, Mohammed Mursi, 2012 zum Präsident Ägyptens gewählt wurde - nur um ein Jahr später vom Militär des Landes wieder abgesetzt zu werden.

Ägypten Sayyid Qutb
Der "Vordenker" der Muslimbrüder: der Journalist Sayyid Qutb, hier während seines Prozesses Mitte der 1960er JahreBild: picture-alliance/AA/I. Yakut

"Riad glaubt nicht an Werte der Demokratie"

Seit dieser Zeit stünden die Muslimbrüder verstärkt im Visier des saudischen Staates, sagt Madawi al-Rasheed: "Die saudische Führung hat sich immer gegen die sozialrevolutionären Tendenzen gestellt, die aus den arabischen Aufständen des Jahres 2011 entstanden. Die Muslimbrüder verbinden Demokratie und Islam. Das hat die Führungsmacht in Riad immer als Herausforderung oder gar Bedrohung ihrer eigenen Legitimation betrachtet. Denn bis heute glaubt die saudische Staatsführung nicht an die Werte der Demokratie."

Sorgen bereiteten der saudischen Staatsführung auch die enge Bindung der Muslimbrüder zur türkischen Regierungspartei AKP. "Die Türkei ist in den letzten Jahren zu einem Hauptkonkurrenten Saudi-Arabiens geworden. Die Rivalität zur Türkei ist teils noch schärfer als die zum Iran. Das hat auch eine ideologische Komponente: Die Türkei ist ein sunnitischer Staat, der Iran hingegen ein schiitischer. Das heißt, die Türkei fordert Saudi-Arabien auch als religiöse Führungsmacht der sunnitischen Welt heraus. Das kann der Iran naturgemäß nicht."

Schielen auf den Westen

Die jüngsten, gegen die Muslimbrüder gerichteten Äußerungen der saudischen Religionsgelehrten stehen in auffälliger zeitlicher Nähe zu Razzien gegen die Muslimbrüder in Österreich. Dort wurden in der vergangenen Woche mehr als 60 Häuser aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft und der aus ihren Reihen hervorgegangenen Hamas durchsucht. Damit reagierte der österreichische Staat auf einen islamistischen Terroranschlag Anfang November in Wien, bei dem vier Menschen erschossen worden waren. Mit den Razzien seien die "Wurzeln des politischen Islams gekürzt" worden, hatte der österreichische Innenminister Karl Nehammer anschließend erklärt. "Wir gehen gegen diese kriminellen, extremistischen und menschenverachtenden Organisationen mit aller Härte und allen Möglichkeiten des Rechtsstaats vor."

Professorin - Madawi Al-Rasheed
"Europa ist auf Distanz zu Saudi-Arabien gegangen", sagt die Nahostwissenschaftlerin Madawi al-RasheedBild: Wikipedia/Chatham House

Die zeitliche Nähe der Erklärung der Religionsgelehrten zu dem Attentat sei wohl kein Zufall, vermutet Madawi al-Rasheed. "Europa ist zuletzt deutlich auf Distanz zu Saudi-Arabien gegangen. Aus mehreren europäischen Hauptstädten kam entschiedene Kritik sowohl an der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul wie auch an der von Saudi-Arabien angeführten Kriegskoalition im Jemen - ungeachtet der Tatsache, dass die Europäer weiterhin Waffen an Saudi-Arabien verkaufen."

Unangenehme Überraschungen kamen für Riad zuletzt auch aus den USA: Nach der Wahl Joe Bidens zum neuen US-Präsidenten spüre Kronprinz Mohammed bin Salman, dass die Zeit nicht zu seinen Gunsten laufe. "Darum versucht er sich nun als glaubwürdiger Partner, als Vertreter eines moderaten Islam zu inszenieren." Daher, vermutet Al-Rasheed, habe er den religiösen Rat angewiesen, sich gegen die Muslimbrüder auszusprechen. "Denn die Behörde ist nicht viel mehr als ein Sprachrohr des Regimes."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika