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Spinnens Wortschau

18. April 2011

Das habe ich noch nie erlebt. Da kommt ein Wort geflogen, setzt sich nieder auf mein' Fuß und hat ein Brieflein im Schnabel …

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Der Schriftsteller Burkhard Spinnen (Foto: privat)
Burkhard SpinnenBild: Burkhard Spinnen

Im Brieflein steht, dass es sich bitte freundlichst und untertänigst um den Titel eines "Unworts des Jahres" bewerben möchte. Und ich möge ihm doch bitte den Gefallen tun und die Bewerbung an die zuständigen Stellen weiterleiten. Worauf das Wort mir im Voraus dankt, höflich nickt und wieder auffliegt. Durch Dutzende von Schrotladungen hindurch, die man ihm nachfeuert, verschwindet es in den Wolken.

Das Wort heißt Restrisiko. Kein so ganz neues Wort. Wir kennen es; es lebt schon einige Zeit in der Fachsprache der Fachleute und war dort immer wohl geborgen. Gefüttert wurde es regelmäßig mit Berechnungen, die kein Nichtfachmann und vermutlich auch kein Fachmann verstand; und diese Berechnungen machten es dick und gemütlich und unangreifbar für seine Feinde.

Ein Wort als Kumpel

Enter-Tast mit Schriftzug 'Restrisiko' (Foto: fotalia/IckeT)
Unwort des Jahres 2011?Bild: Fotolia/IckeT

Außerdem war das Wort ja auch ein Kumpel. Einer, der einem gerne auf die Schulter klopft und sagt: "Na, tu nicht so! Bist doch auch einer von uns." Und dagegen konnte man sich ziemlich schlecht wehren. Denn es lief und läuft ja jeder von uns mit so einem Restrisiko auf der Schulter durchs Leben. Weder Polizei noch Policen können einen vor allem schützen; jedem ist die eigene Blödheit der intelligenteste Feind; und dass ein jedes Leben tödlich endet, ist mittlerweile hinlänglich bewiesen. Deshalb ließ man sich die Schulter klopfen und sagte, wenngleich natürlich mit Widerwillen: "Ja okay, Restrisiko, hast ja Recht."

Begriffsdämmerung

Aber jetzt hat es Restrisiko böse erwischt. Die Berechnungen, an denen es sich satt und dick gefressen hat, haben sich Knall auf Fall als falsch, ja als von Anfang an Null und nichtig erwiesen. Seitdem hungert Restrisiko vor sich hin. Und schlimmer noch: Alle, die nolens volens seine Kumpel waren, wenden sich jetzt von ihm ab und behaupten entweder, nichts mit ihm zu tun oder immer schon gewusst zu haben, was für ein falscher Hund es war.

So krank und hungrig und verschmäht, hat Restrisiko nur noch eine Hoffnung für seine Zukunft. Es möchte jetzt wenigstens "Unwort des Jahres" werden. Wenn schon böse, dann aber richtig. Und vielleicht, so denkt es, kann es sich ja wenigstens von der negativen Ehre einer solchen Auszeichnung ein wenig ernähren.

Aber ich zumindest werde ihm den Gefallen nicht tun und seine Bewerbung weiterleiten. Nicht, dass es den Titel nicht dreimal verdient hätte! Aber mehr noch hätten wir alle, die wir mit Restrisiko jahrelang einen auf Kumpel gemacht haben, einen anderen Titel verdient: nämlich den als "Unkritische des Jahrhunderts."


Autor: Burkhard Spinnen
Redaktion: Claudia Unseld


Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zuletzt ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).