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Realitätssüchtig - Flämische Literaturlandschaften

Silke Bartlick
13. Oktober 2016

Ehrengäste der Frankfurter Buchmesse sind 2016 gleich anderthalb Länder: die Niederlande und das belgische Flandern. Was beide teilen, sind die gemeinsame Sprache und eine bemerkenswerte Literatur.

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Ehrengast Buchmesse Lyrikbaum
Bild: DW/S. Bartlick

Mano Bouzamour hasst das Wort "Migrantenliteratur". Das Etikett bekommt sein Roman "Samir, genannt Sam" gelegentlich verpasst. Aber er sei kein Migrant, sagt Bouzamour. Schließlich wurde er 1991 in den Niederlanden geboren und ist auch dort aufgewachsen. Als eines von mehreren Kindern marokkanischer Einwanderer. Allerdings habe er sich immer wieder gefragt, was er denn nun sei: Ein Niederländer oder ein Marokkaner? Oder ein Amsterdamer mit marokkanischen Eltern? Fragen, die sich auch durch seinen autobiographischen Debutroman ziehen, der in den Niederlanden als das Buch einer neuen, urbanen Generation gefeiert wird. Die siebte Auflage ist bereits im Verkauf, Film-, Theater- und Hörspieladaptionen sind in Vorbereitung. Zudem ist "Samir, genannt Sam" gerade auf Deutsch erschienen (Residenz Verlag) und wurde für Ausgaben in Kolumbien und Mexiko ins Spanische übersetzt.

Ehrengast Buchmesse Mano Bouzamour
Schriftsteller Mano BouzamourBild: DW/S. Bartlick

Der Erfolg lässt sich einfach erklären: Mano Bouzamour ist einer der ersten, der radikal offen vom Aufwachsen zwischen zwei Kulturen erzählt: von Ausgrenzung, Armut, Kriminalität, der engen häuslichen Welt, von Sehnsüchten und den unglaublichen Anstrengungen, in der weißen niederländischen Welt anerkannt zu werden. Und: Bouzamour kann schreiben. 

Gescheiterte Integration

Die Niederlande sind ein Einwanderungsland, in Amsterdam hat jeder vierte einen Migrationshintergrund. Verleger seien sehr interessiert an neuen Stimmen, sagt Maarten Asher, Direktor der renommierten Amsterdamer Buchhandlung Athenaeum. Aber noch sei das literarische  Establishment sehr weiß. Ähnlich die Situation im benachbarten Flandern: Hier ist der junge Fikry El Azzouzi - ebenfalls marokkanischer Herkunft - einer der wenigen, die authentisch aus dem Alltag der Zuwandererkinder erzählen. Sein Roman "Wir da draußen" (DuMont) ist ein beklemmender Einblick in das Leben von Jugendlichen, deren Integration nicht gelingt. Die Folge: Aggressionen, Gewalt und eine schleichende Radikalisierung.

Ehrengast Buchmesse Fikkry El Azzouzi
Fikkry El AzzouziBild: DW/S. Bartlick

"Wir da draußen" ist ein unbequemes Buch. Der Autor scheut sich nicht, für die Verwerfungen auch die belgische Regierung verantwortlich zu machen. Die Hürden, die man überwinden müsse, um sich zu integrieren, lägen hoch, sagt Fikry El Azzouzi. Und die Regierung habe es versäumt, in den Islam zu investieren. "Die größte Moschee in Brüssel wird von Saudi-Arabien finanziert." Es seien Imame aus Saudi-Arabien, die dort ihren Islam predigten. "So werden die Muslime hier in Belgien immer konservativer."

El Azzouzi wünscht sich einen europäischen Islam und mehr Interesse aneinander, mehr Austausch. Das sei umso wichtiger, weil der Ton nach den letzten Attentaten in Brüssel und Paris rauer geworden sei. Viele Zuwanderer und deren Kinder hätten schlicht Angst. Fikry El Azzouzi kämpft für Verständigung. Seine Waffe ist das geschriebene Wort.

Klein, aber oho

Flandern und die Niederlande sind nicht eben groß. Rund sechs Millionen Bewohner hat das flämisch sprachige Belgien, knapp 17 Millionen sind es in den angrenzenden Niederlanden. Umso erstaunlicher wirken Qualität und thematische Breite der Literatur dieses Sprachraums. Natürlich werden auch nationale Themen verhandelt: Denk- und Sichtweisen in den Niederlanden (Harry Mulisch: "Die Entdeckung des Himmels"); der Kampf mit dem Wasser (Margriet de Moor: "Sturmflut"), die lang anhaltende Übermacht des Calvinismus (Marten 't Haart), die Kolonialgeschichte (David van Reybrouck: "Kongo. Eine Geschichte") oder die unterschiedliche Rolle beider Länder im Ersten und Zweiten Weltkrieg (Joost de Vries: "Die Republik", Stefan Hertmans: "Der Himmel meines Vaters"). Aber immer ist diese Literatur klug und tiefsinnig und fesselt mit ihrer realistischen Erzählweise.

Ehrengast Buchmesse Saskia de Coster
Saskia de CosterBild: DW/S. Bartlick

Die niederländische wie die flämische Literatur zeichne mindestens seit den 1950er Jahren eine gewissen Weltläufigkeit aus, sagt der Essayist und Literaturkritiker Matthijs de Ridder. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 habe sich das noch verstärkt. "Es gab ein ganz neues Interesse an Politik." Und an der Welt im Ganzen - das prägt die Literatur des Sprachraums bis heute. "Unsere Literatur", sagt Maarten Asher, "ist rege, eine Art Transitliteratur, die Einflüsse von allen Seiten aufnimmt und in einer neuen, eigenen Form weitergibt." Als klassisches Beispiel nennt er Cees Nooteboom ("Die folgende Geschichte"). Dieser mische unterschiedliche kulturelle Geschichten und mache daraus etwas eigenes Neues. "Nootebooms Arbeitszimmer ist die ganze Welt."

Literatur ohne Klischees

Ehrengast Buchmesse Schriftzug am Bahnhof in Antwerpen
Literatur im Stadtbild - gesehen in Antwerpen. Flandern und die Niederlande sind Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse. Bild: DW/S. Bartlick

In der flämischen und niederländischen Literatur sucht man vergeblich nach Postkarten-Klischees. Stattdessen lassen sich erstaunlich viele Geschichten entdecken, die von gesellschaftlichen Entwicklungen und der Situation des Einzelnen in einer sich verändernden Welt erzählen. Das reicht aktuell von Sakia de Costers scharfzüngigem Familienroman "Wir und ich" (Klett Cotta), über Tommy Wieringas Flüchtlingsroman "Dies sind die Namen" bis hin zu Leon de Winters Politthriller "Geronimo". Der verknüpft das Schicksal eines US-Soldaten, eines afghanischen Mädchens und des Top-Terroristen Osama bin Laden und vermischt übermütig Fakten und Fiktion. Spannend!

Kein Wunder, dass diese Literatur auch jenseits der Grenzen auf Interesse stößt: allein in den letzten Monaten sind mehr als 300 Romane und Anthologien ins Deutsche übersetzt worden.