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Politik

Kunstaktion für eine "Europäische Republik"

Udo Bauer
3. November 2018

Am 10. November wollen Intellektuelle und Künstler die Europäische Republik ausrufen. Die Macher des "European Balcony Projekts" fordern ein Ende der Nationalstaaten und eine grundlegende demokratische Reform der EU.

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Europaparlament Brexit Debatte
Bild: Getty Images/AFP/S. Bozon

Wie, die EU sei undemokratisch? Wer kommt denn auf sowas? Zum Beispiel die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, eine der Initiatoren des "European Balcony" - Projekts. Man könne die wahren Machthaber in der EU, die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer, "weder kontrollieren, noch für Fehler zur Verantwortung ziehen", kritisiert sie. Keine Transparenz, keine Kontrolle, kein Recht auf Abwahl. Das, so Guérot, bemängelten seit Jahrzehnten im Grunde auch viele andere Sozialwissenschaftler an der Europäischen Union. Doch geändert habe sich nichts. Guérot will jetzt Abhilfe schaffen: Mit einer mehrtägigen politischen Kunstaktion 100 Jahre nach dem Ende des 1. Weltkrieges und radikalen Forderungen: Die alten Nationalstaaten oder zumindest die nationalen Gesetze gehören abgeschafft, erklärt sie, "sonst kommen wir nie in Europa an." Das Europäische Parlament brauche endlich die Möglichkeit, selbst Gesetze zu initiieren; es solle aus zwei statt einer Kammer bestehen; in der zweiten sollen Vertreter aus 60 europäischen Regionen das Sagen haben. Außerdem müsse der Kommissionspräsident direkt vom Volk gewählt werden.

Ulrike Guerot Politikwissenschaftlerin
Sie gab den Anstoß für das "European Balcony Project": Die Professorin für Europapolitik Ulrike GuérotBild: Dominik Butzmann

Neben Ulrike Guérot setzen sich auch eine Reihe von Künstlern für die Abschaffung der europäischen Nationalstaaten ein: Der Theatermacher Milo Rau oder Schriftsteller wie Robert Menasse und Elfriede Jelinek , unterstützen das European Balcony Projekt mit Rat und Tat. Vielleicht, weil in Europa das Gespenst des Nationalismus und des Populismus umgeht und die Briten Europa den Rücken kehren. Das macht vielen Europäern Angst.

Hat die EU Schuld an Populismus und Brexit?

 "Wir wollen mit unserem Projekt in das Herz der Debatte gehen und nicht mit dem Finger auf Italiener, Ungarn, Polen und Briten zeigen", sagt Ulrike Guérot. Für sie steht fest: "Nicht der Populismus zerstört die EU, sondern die EU produziert den Populismus."  Den Spruch muss man erstmal verdauen. Hat das "Balcony Project" etwa Verständnis für die Absetzbewegungen von der EU? In gewisser Weise ja, so die Professorin. Wenn zum Beispiel der ehemalige britische Außenminister Boris Johnson den Brexit befürwortet mit der Begründung, er habe keine Kontrolle über die EU, "dann hat er leider recht", argumentiert sie. Man habe in der EU über nichts und niemanden Kontrolle, "sowohl die nationalen Politiker als auch die Bürger der EU sind schlicht wehrlos und ausgeliefert", sagt die Politikwissenschaftlerin. Das sehen Europas Bürger anders: Laut der Mai-Umfrage des "Eurobarometers" sind erstmals mehr Europäer (48%) der Meinung, dass ihre Stimme in der EU etwas zählt, als dass sie nichts zählt (46%). Insgesamt zeigt die Umfrage sogar ein steigendes Interesse und eine wachsende Wertschätzung der Europäer für die EU.

Wie Scheidemann 1918: vom Balkon

Philipp Scheidemann ruft die Republik aus
Dient als Vorbild: Philipp Scheidemann rief am 9. November 1918 von einem Balkon die Deutsche Republik ausBild: picture-alliance/dpa

Das hält die Initiatoren aber nicht davon ab, symbolisch die Republik Europa auszurufen, vom Balkon aus. So, wie am 9. November 1918 in Deutschland der sozialdemokratische Politiker und der spätere Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann die Weimarer Republik proklamiert hatte, nach dem Ende der Monarchie in den Trümmern des 1. Weltkriegs. Jetzt sollen sich interessierte Bürger in möglichst allen EU-Ländern in einem Reenactment probieren und laut ein "EU-Manifest" verlesen. Die Initiatoren stellen sich das idealtypisch so vor: Man lädt zwei Dutzend gleichgesinnte Freunde ein, feiert eine Party. Mit Musik und Kunst lädt man Passanten zum Verweilen ein, diskutiert, verteilt Flugblätter. Einer übernimmt das Verlesen des Manifests am Megafon. Darin wird unter anderem das Scheitern der europäischen Nationalstaaten festgestellt und der Verrat am Traum europäischer Integration. Europa bedeute "Menschen zu vereinen statt Staaten zu integrieren" heißt es noch, bevor der Europäische Rat für aufgelöst erklärt wird und das EU-Parlament mit Gesetz gebender Gewalt ausgestattet. Mit einem "Lang lebe die Europäische Republik" schließt das Manifest. 

Über die Kunst in die öffentliche Diskussion?

Dass dieser von den Initiatoren tausendfach zeitgleich erhoffte "europaweite Sprechakt für mehr Demokratie" möglicherweise peinlich wirkt, das befürchtet Ulrike Guérot nicht. In den sozialen Medien seien europaweit schon jetzt über 40 lokale Facebook-Themenseiten online, insgesamt 150 Gruppen hätten phantasievolle Aktionen geplant, in Deutschland unter anderem das Thalia-Theater in Hamburg. Ob der Funke über die Kunst zu den Menschen überspringt bei diesem doch arg utopischen Thema? Am 10. November werden wir es wissen, um 16 Uhr, und – wie es auf der Webseite heißt: "on a balcony near you".