1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Proteste in Frankreich: Worum geht es bei der Rentenreform?

26. März 2023

In Frankreich eskalieren die Demonstrationen gegen die vergangene Woche verabschiedete Rentenreform. Dabei ist das französische Rentensystem im internationalen Vergleich bisher recht großzügig. Ein Blick nach Europa.

https://p.dw.com/p/4PG3K
Frankreich Paris Protest Rentenreform Ausschreitungen
In Frankreich ist es am Wochenende bei Protesten gegen die Rentenreform zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommenBild: Nacho Doce/REUTERS

Von 62 auf 64 Jahre will Präsident Emmanuel Macron das Renteneintrittsalter in Frankreich erhöhen. In vielen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland, schütteln Menschen darüber die Köpfe. Denn in diesen Köpfen hat sich die Zahl 67 festgesetzt, weil der Renteneintritt in Deutschland ab 2024 auf dieses Alter steigt.

"Es ist immer schwierig, Rentensysteme miteinander zu vergleichen, weil sie alle sehr komplex und sehr unterschiedlich sind. Aber dieser Vergleich ist schief", sagt Ulrich Becker vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, das mit den "Pension Maps" Rentensysteme rund um die Welt graphisch aufarbeitet und damit deren Eigenarten sichtbar macht. 

Parlamentarierhalten Schilder in die Höhe "64 ans c'est non", etwa: "Nein zu 64 Jahren"
Die Opposition im Parlament schließt sich dem Protest gegen die Rentenreform anBild: Ait Adjedjou Karim/ABACA/picture alliance

Was da in Frankreich angehoben und so plakativ bestreikt wird, ist nämlich der frühestmögliche Zeitpunkt, zu dem Erwerbstätige in den Ruhestand gehen können, ohne Rentenabschläge hinzunehmen. Vorausgesetzt, man hat 41,5 Jahre lang gearbeitet, künftig sollen das 43 Jahre sein.

In Deutschland ist dies derzeit im Alter von 63 Jahren möglich, künftig mit 65 Jahren - allerdings erst nach 45 Beitragsjahren. Eine abschlagsfreie Rente ohne Berücksichtigung der Dauer der Erwerbstätigkeit ist auch in Frankreich erst mit Vollendung des 67. Lebensjahres zu haben - das soll mit der Reform auch so bleiben.

Französische Rentner im Vorteil

Tatsächlich stehen französische Rentner im internationalen Vergleich - nicht nur mit Deutschland - bisher recht gut da. Zumindest, wenn man dies an den folgenden drei Kriterien bemisst: die Rentenhöhe, das Eintrittsalter und die Rentenbezugsdauer, also die Lebenserwartung zum Rentenbeginn.

Wie gut es gelingt, im Ruhestand den Lebensstandard zu halten, hängt davon ab, wie hoch die Rente im Vergleich zum regulären Verdienst ausfällt. Die sogenannte Netto-Rentenersatzquote ist der Prozentsatz, der von dem Nettoeinkommen bleibt, das man durchschnittlich während des gesamten Erwerbslebens bezogen hat.

In Frankreich waren das 2020 satte 74,4 Prozent. Das würde heißen: Wer vom Arbeitgeber im Monatsschnitt 2500 Euro überwiesen bekam, bekommt etwa 1860 Euro Rente aufs Konto.

Damit liegt Frankreich bei der Netto-Rentenersatzquote um 14 Prozentpunkte über dem OECD-Durchschnitt. In Deutschland bleiben Rentnern gerade einmal 52,9 Prozent ihres lebenslangen Nettogehalts. 

Wer studiert, arbeitet kürzer 

Tatsächlich könnte die Quote in Frankreich künftig für viele Menschen sinken. Der Grund: Zusammen mit dem Mindestalter soll auch die Anzahl der Erwerbsjahre angehoben werden, ab denen man eine volle Rente erhält. 

Das könnte vor allem Geringverdiener treffen, da diese meist früher anfangen zu arbeiten. Wer hingegen etwa erst mit 25 Jahren beginnt, Rentenbeiträge zu zahlen, weil er studiert hat, ist schon nach 42 Berufsjahren 67 Jahre alt und erhält in jedem Fall die volle Rente.

Zum Ausgleich sieht die Rentenreform eine Anhebung der Mindestrente auf etwa 1200 Euro für Alleinstehende vor. Derzeit beträgt sie 961,08 Euro, womit sie - gemessen am Durchschnittseinkommen der Bevölkerung - im OECD-Vergleich im Mittelfeld liegt. Übrigens: Deutschland ist eines der wenigen Länder ohne Mindestrente. 

De facto schaffen es jedoch viele Menschen in Frankreich gar nicht, bis zum Renteneintrittsalter zu arbeiten. Wie in anderen Ländern auch, nehmen sie Rentenabschläge in Kauf, um den Job früher an den Nagel zu hängen. Häufig aber geschieht dies auch unfreiwillig, weil ältere Arbeitnehmer vorzeitig in den Ruhestand gedrängt oder gar entlassen werden. Die Chancen, einen neuen Job zu finden, sind dann minimal.

In Frankreich führt das dazu, dass Männer durchschnittlich bereits mit 60,4 und Frauen mit 60,9 Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Damit gehen Franzosen fast 3,5, Französinnen 1,5 Jahre früher in den Ruhestand als ihre jeweilige OECD-Peer-Group. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass sie deshalb früher Rente beziehen.*

Langes Leben, langer Ruhestand?

Viele beziehen in den Jahren bis zum Renteneintritt Arbeitslosengeld und zahlen nicht mehr in die Rentenkasse ein. Gleichzeitig ist die Lebenserwartung in Frankreich jedoch besonders hoch. Nur in Luxemburg (24 Jahre) beziehen Männer durchschnittlich etwas länger ihre Rente als in Frankreich (23,5 Jahre). Länger als die Französinnen (27,1 Jahre) beziehen nur Griechinnen (28,4) und Spanierinnen (27,7 Jahre) Altersgeld.

Genau dies sind die Gründe für die Rentenreform in Frankreich. "Frankreich muss sich der Frage stellen, wie es sein Rentensystem an den demographischen Wandel anpasst," erklärt Sozialrechtler Ulrich Becker. Für Rentenkassen ist es ein Problem, dass die Menschen immer älter werden, weil die Rente über einen längeren Zeitraum ausgezahlt werden muss, obwohl nicht mehr eingezahlt wurde. Hinzu kommt, dass die Geburtenraten sinken und deshalb immer weniger Erwerbstätige für immer mehr Rentner die Beiträge zahlen müssen. 

In der OECD kommt deshalb kein Rentensystem allein mit den Beiträgen der Versicherten aus. In Frankreich gehören die öffentlichen Rentenzuschüsse - gemessen am Bruttoinlandsprodukt - zu den höchsten in der OECD, nur in Italien sind sie noch höher. Darauf zielte MacronsRegierungschefin Elisabet Borne ab, als sie erklärte: "Wir legen mit dem Projekt eine Garantie vor, bis 2030 die Rentenkassen finanziell auszugleichen."

"Privilegien abschaffen"

"Eine nahe liegendes und überall diskutiertes Mittel ist es, das Renteneintrittsalter anzuheben", erklärt Becker. "So zahlen die Menschen länger ein und erhalten kürzer Leistungen. Man will damit das Verhältnis zwischen Beiträgen und Leistungen wieder zurechtrücken."

Genau dies haben bereits eine Reihe von OECD-Staaten getan, und viele planen bereits weitere Anhebungen: In den Niederlanden, Dänemark, Estland und Italien wird das Renteneintrittsalter in den nächsten Jahren auf 69 oder mehr Jahre ansteigen.

Und in Frankreich? "Es gerät aus dem Blick, dass die Reformen auch Privilegien bestimmter Gruppen abschaffen sollen", sagt Rentenexperte Becker. "Der Grund dafür ist offensichtlich, dass die Verteidigung sozialer Rechte für wichtiger gehalten wird als deren generationengerechte Verteilung."

 

* Hinweis: Dieser Artikel wurde ursprünglich am 26. März 2023 veröffentlicht und am 21. April 2023 an mehreren Stellen überarbeitet. In der ursprünglichen Version wurde nicht unterschieden zwischen Ende des Erwerbslebens und Renteneintritt.

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.