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Planspiele für das Baltikum

Michael Knigge (kk)23. September 2015

Die Situation im Baltikum ist angespannt. Bewaffnete NATO- Jets demonstrieren Stärke und Entschlossenheit des westlichen Bündnisses. Doch was will Russland? Drei Experten entwerfen mögliche Szenarien.

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Die Grenze Estland-Russland, 2013 (Foto: Arci Images GmbH)
Bild: picture alliance/Arco Images GmbH/ F. Scholz

Erstmals seit dem Fall der Sowjetunion hat das Pentagon damit begonnen, seine Pläne für einen möglichen bewaffneten Konflikt mit Russland zu überarbeiten und zu aktualisieren. So berichtete es in der vergangenen Woche das mit außenpolitischen Themen befasste Magazin "Foreign Policy".

Das heißt nicht, dass das US-Verteidigungsministerium annimmt, ein solches Szenario stünde bevor oder sei realistisch. Wohl aber kann man die Planspiele als Hinweis darauf verstehen, dass Moskaus neuer Kurs in Washington aufmerksam verfolgt wird. Darum passen die Strategen des Pentagon die alten Pläne den aktuellen Gegebenheiten an.

Als besonders besorgniserregend empfinden die US-Verteidigungsexperten die Tatsache, dass die NATO und die USA verschiedenen Berichten zufolge nur bedingt in der Lage sind, Estland und Lettland zu verteidigen. Diese beiden Staaten gelten als die wahrscheinlichsten Kandidaten für eine bewaffnete Auseinandersetzung mit Moskau.

Die jüngste Entwicklung wirft die Frage auf, wie realistisch ein solches Szenario ist. Dazu hat die DW drei Strategie-Experten befragt.

NATO-Jets über dem Baltikum, 20.11. 2014 (Foto: AP)
NATO-Jets über dem BaltikumBild: picture-alliance/AP Photo/M. Kulbis

Neil Melvin, Direktor des Forschungsprogramms Bewaffnete Konflikte und Konfliktmanagement am Stockholmer International Peace Research Institute (SIPRI):

"Die militärische Intervention Russlands in der Ukraine hat eine Spirale der Eskalation mit der NATO ausgelöst. In deren Zentrum steht das Baltikum. Angetrieben wird diese Eskalation von einer Art Sicherheitsdilemma: Die Schritte, die die eine Seite zum Ausbau ihrer Sicherheit tut, tragen zur Verunsicherung auf der anderen Seite bei. Das wiederum treibt diese, ihre eigene Sicherheit zu erhöhen. So erklärt Russland, es wolle einen neuen Luftwaffenstützpunkt in Belarus eröffnen - und zwar in Reaktion auf die NATO, die plant, neue Anlagen und irgendwann vielleicht sogar neue Basen in Polen und den baltischen Staaten zu errichten.

Angesichts der hohen Risiken - im schlimmsten Fall der Gefahr einer nuklearen Konfrontation - ist eine russische Intervention im Baltikumunwahrscheinlich. Anders als die Ukraine sind die baltischen Staaten gut organisiert und verfügen über eine starke Sicherheitsarchitektur. Darüber hinaus gibt es eine aktive Zivilgesellschaft, die sich auf hybride Konflikte und einen Medienkrieg nicht einlässt. Vor allem aber dürfte Artikel 5 der NATO-Vereinbarung - er regelt die Beistandsverpflichtung des Bündnisses gegenüber den baltischen Staaten - eine rote Linie darstellen, die eine russische Intervention verhindert.

Gleichzeitig besteht die Gefahr einer wachsenden Regionalisierung des Konflikts. Sollte es zu Maßnahmen gegenüber Russland kommen oder sollte Russland den Eindruck haben, die NATO ginge in einer bestimmten Region gegen Moskau vor, könnten die Konflikte leicht in einer andere Region überspringen. So könnten mögliche Konflikte in Syrien auch Folgen für die Entwicklung auf dem Baltikum haben.

Iver B. Neumann, Professor für internationale Beziehungen an der London School of Economics:

Russland arbeitet mit den Waffen der Schwachen: Täuschung und vorgeschobene Argumente. Diese Taktik funktioniert am besten, wenn sie noch nicht verschlissen ist.

Ein Angriff auf die baltischen Staaten könnte unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Aus einer schwachen Position heraus können keine umfassenden Angriffe gestartet werden. Darum dürfte es sich bei den zu erwartenden Operationen um solche von geringer Intensität handeln.

Russland ist im Baltikum bereits präsent. Die Frage ist nur, ob Moskau sich entscheidet, diese Präsenz noch weiter zu akzentuieren. Moskaus größte Sorge ist offenbar, dass man Russland als internationalen Akteur schlicht vergisst. Das würde das Ende seines Großmachtstatus' bedeuten.

Olga Oliker, Direktorin des Zentrums für Russland und Eurasien bei der Rand Corporation:

Ich halte jegliche Art von russischen Militäraktionen in den baltischen Staaten in naher Zukunft für höchst unwahrscheinlich. Allerdings schien auch die russische Militärintervention in der Ukraine zunächst höchst unwahrscheinlich. Wenn solche Aktionen also unwahrscheinlich scheinen, heißt das nicht, dass wir sie auf jeden Fall ausschließen können.

US-Manöver im Batikum, 07.05.2015 (Foto: Reuters)
US-Manöver in LettlandBild: Reuters/I. Kalnins

Weiter muss man sich fragen, wie diese unwahrscheinliche russische Aktion aussehen könnte. Die Vorstellung, dass Russland, wenn es im Baltikum intervenieren würde, dies auf die gleiche Weise wie in der Ukraine täte, ist höchst unplausibel.

Zudem konnten wir in der Ukraine zwei grundverschiedene Vorgehensweisen beobachten: Für das Vorgehen auf der Krim gab es sehr spezifische Gründe: die Geographie der Halbinsel, der Bevölkerungsrückgang, die Geschichte und die russische Militärpräsenz. Auf die gleiche Weise hätte Russland auch im Osten der Ukraine vorgehen können. Doch dies erwies sich als weniger erfolgreich. Darum nahm der Konflikt rasch die Form einer herkömmlichen Auseinandersetzung an.

Die russischen Vorgehensweisen im Baltikum können wir als unterschiedliche Formen von Subversion verstehen - als Test gewissermaßen, der aber noch keiner militärischen Aktion gleichkommt.

Zudem können sich die baltischen Staaten selbst schützen, indem sie weniger auf Provokationen reagieren. Die NATO befürchtet eine große und schnelle konventionelle Invasion, ausgelöst womöglich durch ganz andere Vorfälle. Aber in einem solchen Fall würde es hinreichende Warnzeichen geben, so dass ausreichend Zeit bliebe, sich auf die Situation einzustellen und die Pläne anzupassen.