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Politik

Ein Gefühl von Ungerechtigkeit

10. Februar 2017

Die brutale Festnahme eines jungen Schwarzen in einer Pariser Vorstadt hat nächtelange Krawalle ausgelöst. Die jungen Migranten dort fühlen sich ungerecht behandelt und abgehängt.

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Paris Demonstrationen und Gewalt nach Übergriff auf Theo
Bild: picture-alliance/NurPhoto/J. Mattia

Empörung in Frankreich: Der Fall Theo

Der Vorfall liegt eine gute Woche zurück. An jenem Donnerstag führen vier bewaffnete Polizisten eine Routinekontrolle im Wohngebiet Cité 3000 in Aulnay-sous-Bois durch. In der heruntergekommenen Pariser Vorstadt mit ihrem hohen Anteil an Franzosen, deren Familien aus Afrika oder Nordafrika stammen, ist das Routine. Die Polizei sagt, die Kontrollen dienten dem Kampf gegen den Drogenhandel, die jungen Leute halten sie für Schikane.

An diesem Tag eskaliert die Lage sofort, als die Polizisten die Identität mehrerer Jugendlicher feststellen will. Eine Überwachungskamera hält alles fest: Die Polizisten traktieren einen jungen Schwarzen mit Fäusten, Füßen und Gummiknüppeln.

Später kommt der junge Mann, den die Öffentlichkeit seitdem als Théo kennt, in ein Krankenhaus, weil er Verletzungen im Analbereich hat, die offenbar vom Einführen eines Schlagstocks herrühren. Er liegt immer noch in der Klinik. Einer der Polizisten sagt in französischen Medien: "Ich wollte, dass er das Gleichgewicht verliert und zu Boden fällt, so dass wir ihm leichter Handschellen anlegen konnten." Sein Anwalt fügt jetzt hinzu, der junge Schwarze habe sich heftig gewehrt. Der Polizist habe ihm nicht absichtlich den Schlagstock in den Anus gerammt. Théo bestreitet das: "Ich sah, wie er den Schlagstock nahm und ihn absichtlich hineinstieß."

Paris Unruhen wegen misshandeltem Jungen
Ausgebranntes Auto in Aulnay-sous-Bois nach den UnruhenBild: picture-alliance/AP Photo/A. Turnbull

Hollande am Krankenbett

Gegen diesen Beamten wird inzwischen wegen des Verdachts der Vergewaltigung ermittelt. Alle vier Polizisten wurden suspendiert. Théo hatte keine Vorstrafen, kam aus einer Familie mit gutem Ruf. Wohl auch das hat Präsident François Hollande bewogen, den jungen Mann am Krankenbett zu besuchen und ihm Mut zuzusprechen. Es war eine ungewöhnliche Geste, vor allem im Vergleich zu dem, was sein Vorgänger bei ähnlichen Vorfällen getan hat.

Denn viele fühlen sich in diesen Tagen an die wochenlangen Unruhen von 2005 erinnert. Sie wurden ausgelöst, als zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei über die Absperrung eines Trafohäuschens kletterten und dabei von Stromstößen getötet wurden. Das löste Krawalle und Straßenschlachten mit der Polizei in ganz Frankreich aus, hunderte von Autos und mehrere Häuser wurden angezündet, rund 3000 Jugendliche wurden festgenommen. Damals sagte der Innenminister und spätere Präsident Nicolas Sarkozy nach einem Besuch in einem der Viertel: Angesichts der Kriminalität solle man das Quartier "mit dem Hochdruckreiniger säubern". Die protestierenden Jugendlichen mit meist afrikanischen oder arabischen Wurzeln bezeichnete Sarkozy als "Gesindel". 

Paris Hollande besucht Theo im Krankenhaus nach Misshandlung
Präsident Hollande hat Théo im Krankenhaus besuchtBild: Getty Images/AFP/A. Journois

"Wozu Kontrollen? Die Polizei kennt ja die Leute"

Diesmal ist manches anders - und manches auch gleich. Denn nach dem Vorfall mit Théo brachen Unruhen aus, erst in Aulnay-sous-Bois, dann auch in anderen Städten. Théos Appell vom Krankenbett aus, "zusammenzustehen, Frieden zu schließen, auf der Justiz zu vertrauen", schien nur geringe Wirkung zu haben. Am Mittwoch demonstrierten hunderte Menschen in Rennes und Nantes, Dutzende Jugendliche wurden festgenommen.

Für den Soziologen Renaud Epstein von der Universität Nantes waren und sind die Unruhen damals und heute Ausdruck einer tief empfundenen Ungerechtigkeit: "Die Jugendlichen in den Vorstädten fühlen sich stigmatisiert und ungerecht behandelt. Die Polizei geht brutal mit ihnen um und kontrolliert sie sehr oft, selbst wenn der Nachweis der Identität sinnlos ist - die Polizei kennt die Leute ja."

Arnaud Leduc von der Polizeigewerkschaft Unité SGP in Seine-Saint-Denis meint dagegen, die Kontrollen in der Gegend seien ein wichtiger Teil des üblichen Vorgehens: "In der Wohnanlage Cité 3000 gibt es mindestens zehn Drogenhändler. Und wir müssen doch wohl etwas gegen sie unternehmen, oder? Außerdem ist die Polizeiarbeit dort sehr schwierig, das Umfeld gilt als Anti-Polizei-Gegend." Das Verhältnis zwischen Jugendlichen und der Polizei hat sich in den vergangenen fünf Jahren verschlechtert.

Nicolas Sarkozy La Courneuve 2005
Sarkozy als Innenminister 2005: das Viertel "mit dem Hochdruckreiniger säubern"Bild: AP

Der Terror hat die Lage verschlimmert

Dabei hatte Präsident Hollande bei seinem Amtsantritt 2012 eine neue Politik auch in diesem Bereich versprochen. Er hatte gesagt, er wolle mehr Polizeistellen schaffen, so dass die Beamten in den Banlieues ein Vertrauensverhältnis mit der örtlichen Bevölkerung aufbauen könnten. Hollande hatte auch zwei neue Gesetze angekündigt. Eines sollte Polizisten verpflichten, Identitätsfeststellungen zu quittieren, so dass man etwas in der Hand hatte, wenn man sich als Opfer zu häufiger Kontrollen fühlte und gerichtlich dagegen vorgehen wollte. Ein zweites Gesetz sollte Ausländern das Wahlrecht bei Gemeinderatswahlen geben.

Aber nichts davon ist geschehen, sagt Thomas Kirszbaum von der Hochschule ENS Cachan: "Die Regierung hat die beiden entscheidenden Reformen fallen lassen, die den Menschen in den Vorstädten das Gefühl gegeben hätten, dass sie fairer behandelt werden und ihnen eine Stimme gegeben wird", so der Soziologe. "Und was schlimmer ist, eine Reihe von Gesetzen nach den jüngsten Terrorangriffen hat der Polizei noch mehr Rechte gegeben und das bedeutet, dass sie noch weniger unter Beobachtung stehen als vorher."

Kirszbaum glaubt, dass die Terroranschläge auch zu wachsenden Ressentiments gegen Muslime im Land geführt haben. Die Bewohner der Banlieues, wo viele Muslime leben, fühlen sich jetzt noch mehr stigmatisiert. "Drei Viertel dieser Menschen haben 2012 Hollande gewählt", sagt der Soziologe. "Heute sind sie von der Regierung zutiefst enttäuscht."

Dazu kommt die schwierige Wirtschaftslage. Verglichen mit 2012 gibt es heute in Frankreich 600.000 mehr Arbeitslose, und, so Kirszbaum, die meisten dieser zusätzlichen Arbeitslosen leben in den Vorstädten.

Heißt das, dass die jüngsten Unruhen, so wie 2005, Wochen anhalten werden? Immerhin bestehen die Gründe, die damals zu den Aufständen geführt haben, auch heute fort. Doch Renaud Epstein glaubt, die Situation heute sei eine andere. "Präsident Hollande und der örtliche Bürgermeister, der Republikaner Bruno Beschizza, eine früherer Polizist, haben die Brisanz der Lage erkannt und Théo verteidigt. "2005 bestritt die Regierung einige der Fakten zu Beginn der Unruhen und verteidigte die Polizei. Deshalb weiteten sich die Krawalle auf andere Städte aus - und verstärkte noch das Gefühl der Ungerechtigkeit", sagt Epstein. Vielleicht gibt es diesmal Hoffnung, dass sich politisch etwas ändert.

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik