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Papiertiger jagt Papiermaus

Bernd Riegert5. November 2003

30.000 Beamte in 20 EU-Kommissariaten denken unablässig darüber nach, was sich in Europa regeln, vereinheitlichen und erfassen lässt: 80.000 Seiten mehr oder minder sinnvolle Gesetze sind die Folge, weiß Bernd Riegert.

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Im komplexen Organismus der Europäischen Union besitzt die Kommission das Vorschlagsmonopol für neue Richtlinien. Das Parlament darf nur Stellung nehmen, der Ministerrat als eigentlicher Gesetzgeber sagt ganz am Ende meist nur ja oder nein. Unbestreitbar produziert die EU-Maschinerie viele sinnvolle Regelungen, aber bei mancher Richtlinie fragen sich nicht nur Normal-Bürger, sondern auch die EU-Parlamentarier: Was soll denn das wieder?

Zu Tode bürokratisiert

Jüngstes Beispiel ist ein Neufassung der Richtlinie zur Vergabe von Verbraucherkrediten. Die alte Fassung aus dem Jahr 1987 soll verschärft werden. Sowohl Banken als auch Verbraucherverbänden lehnen sie als unzureichend ab. Das Europäische Parlament will das bürokratische Monstrum nun an die Kommission zurückgeben ohne Änderungsvorschläge zu machen. Die Richtlinie sei so unsinnig, dass Änderungen nicht lohnten. Die komplette Ablehnung eines Kommissionsvorschlages ist ein noch nie dagewesener Affront. Parlament und Kommission verheddern sich in einem Machtkampf. Ähnliches droht der Richtlinie zur Bevorratung von Erdöl in den Mitgliedsstaaten.

"Überregulierung!" klagen Wirtschaftsverbände – nicht nur in den genannten Fällen. Auch die Chemikalienverordnungen oder die Regelungen zwecks Gleichstellung von Mann und Frau bei Versicherungstarifen sind überkompliziert. Bundeskanzler Gerhard Schröder selbst sah sich veranlasst, Kommissionspräsident Romani Proni aufzufordern, die Regulierungswut nicht zu übertreiben. Und wenn gar der systemkritische Journalist fragt, wie solche offenbar überflüssigen Richtlinien zustande kommen, dann erhält er eine verblüffende Antwort: Achzelzucken!

Beispiel: Verbraucherkredite

Niemand im Parlament und bei der Kommission kann sich je daran erinnern, warum die Kredit-Richtlinie eigentlich neu gefasst werden soll. Auf Nachfrage heißt es dann: "Ja, es sei ja mal wieder an der Zeit gewesen und es habe da im Umfeld des zuständigen Beamten gewisse Ereignisse im privaten Bereich im Zusammenhang mit Krediten gegeben ..." Verabschiedet wurde das Werk bereits im letzten Jahr während der Sommerpause, ohne dass die Kommissare darüber lange diskutiert hätten. Das interne Abstimmungsverfahren der verschiedenen Ressorts funktioniere überhaupt nicht, schimpft der CSU-Abgeordnete im Europäischen Parlament, Joachim Würmeling.

Manchmal produzieren die Kommissare sogar einander widersprechende Richtlinien. Vom Wirtschaftsressort wird Abholzung des Bürokratieurwaldes gefordert, während das Verbraucherressort neue Paragraphendschungel pflanzt. Und umgekehrt.

Brüssler Beschäftigungstherapie

Im Grunde, so wird in Brüssel spekuliert, geht es um Beschäftigungstherapie: Ein gelangweilter Beamter erfindet etwas. Das flutscht durch die Mühlen der Kommission. Das Parlament berät, ändert, verweist. Die Kommission fasst neu, berät, ändert, rotiert. Lobbyisten belagern die Parlamentarier, schreiben an die Kommission. Die zuständigen Minister und ihre nationalen Beamten beraten, verweisen, rotieren, beerdigen oder stimmen zu. Journalisten berichten und verfolgen den Werdegang der Richtlinien durch die bürokratischen Instanzen. Dutzende, wenn nicht Hunderte Menschen sind damit beschäftigt. Brüssel brummt, kreißt und gebiert eine Maus, eine Papiermaus noch dazu. Die dann wiederum von Papiertigern gejagt und irgendwann gefressen wird.

Die bange Frage lautet: Was passiert, wenn die Kommission in den nächsten Jahren durch die EU-Erweiterung auf bis zu 27 Ressorts anschwillt?! Wird dann noch mehr geregelt, verwaltet und vermurkst?! "Das könnte passieren", unken EU-Insider, die lieber anonym bleiben wollen.