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"Die Menschen in Gaza haben Angst"

Anne Allmeling11. Juli 2014

Die Luftangriffe der israelischen Armee machen den Palästinensern im Gazastreifen schwer zu schaffen, sagt Riad Othman von der Hilfsorganisation Medico International. Besonders die Kinder leiden darunter.

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Riad Othman (Büroleiter von Medico International in Israel und Palästina)
Bild: Gordon Welters

Deutsche Welle: Seit Tagen fliegt die israelische Armee Luftangriffe im Gazastreifen. Wie wirkt sich das auf den Alltag der Menschen aus?

Riad Othman: Die meisten Menschen sind völlig verängstigt, weil sich überhaupt nicht abschätzen lässt, wo die Raketen herunterkommen. Die israelische Armee hat heute Morgen gesagt, sie habe bisher 860 Angriffe geflogen. Das ist eine unglaubliche Zahl von Bomben, Raketen und Mörsergranaten. Denn nicht jeder Angriff ist nur ein Geschoss, sondern besteht aus mehreren Geschossen.

Alle unsere Partnerorganisationen im Gazastreifen haben gesagt, dass das für die Erwachsenen schon sehr schlimm sei, weil man durch dieses Dauerbombardement nachts kaum schlafen kann. Das heißt, man ist eigentlich schon nach der ersten Nacht völlig kaputt. Und das setzt sich dann so fort. Aber für unsere Partner ist das Schlimmste, dass sie nicht wissen, wie sie sich um die Kinder kümmern sollen. Das Vertrauen, das Kinder eigentlich haben - nämlich dass die Eltern sie vor allem beschützen - genau dieses Vertrauen wird durch diese Bombardierung sehr stark beschädigt. Die Eltern stehen jetzt vor dieser Herausforderung, dass sie den Kindern die Angst überhaupt nicht mehr nehmen können. Denn die Kinder haben längst begriffen haben, dass die Eltern ohnmächtig sind im Angesicht der Bombardierungen.

Dabei muss man bedenken, dass die Bevölkerung in Gaza sehr jung ist. Von den 1,7 Millionen Menschen, die jetzt unter Beschuss sind, sind 40 Prozent 15 Jahre oder jünger. Das heißt: Fast die Hälfte der Bevölkerung sind Kinder. Und was das zur Brutalisierung dieser Generation beiträgt, zur Traumatisierung und vielleicht auch zur Radikalisierung der neuen jungen Erwachsenengeneration, das will ich mir gar nicht vorstellen.

In den vergangenen Tagen hat es bereits viele Tote und Verletzte gegeben. Wie werden die Opfer im Gazastreifen versorgt?

Heute morgen war von 90 Toten die Rede und von über 600 Verletzten. Wo diese Menschen versorgt werden, hängt stark von der Schwere der Verletzungen ab. Wenn es sich um leichtere Verletzungen handelt, können sie durchaus auch in Einrichtungen von Nichtregierungsorganisationen wie unseren Partnern behandelt werden. Das ist primär eine Basisgesundheitsversorgung. Menschen, die schwerer verletzt sind und Operationen brauchen, müssen in öffentliche Krankenhäuser gebracht werden. Für ihre Versorgung braucht man eine ganz andere Infrastruktur – und das ist zum Teil ein strukturelles Problem.

Dazu muss man wissen, dass das Gesundheitsministerium in Palästina schon am 3. Juni, also lange vor den militärischen Auseinandersetzungen, gesagt hat: 85 Prozent der essenziellen Medikamente haben wir nicht mehr vorrätig. Und dazu kommt jetzt der Bedarf von Hunderten von Verletzten. Im Al-Schiffa-Krankenhaus in Gaza-Stadt, das ist das größte Krankenhaus im Gazastreifen, ist die Intensivstation voll belegt. In einem weiteren Flügel, der jetzt umfunktioniert wurde zur erweiterten Intensivstation, ist auch kein Platz mehr. Und jetzt sind sie gerade dabei, händeringend weitere Räume zu Intensivstationen umzufunktionieren.

Auch ohne die Luftangriffe leben die Menschen im Gazastreifen unter schwierigsten Bedingungen - wegen der israelischen Blockade. Wo macht sich das besonders bemerkbar?

Ganz elementar sind die Arbeitslosigkeit und der Mangel an Strom und an Treibstoff. Das hängt eigentlich miteinander zusammen. Nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Mursi im Juni 2013 hat die ägyptische Armee die Tunnel an der ägyptischen Grenze zum Gazastreifen zerstört. Und das hat beinahe zum Kollaps der Wirtschaft im Gazastreifen geführt. Zehntausende von Menschen haben ihre Arbeit verloren. Nicht, weil die in den Tunneln gearbeitet hätten. Aber die israelische Abriegelung Gazas schränkt zum Beispiel auch die Einfuhr von Baustoffen ein. Wenn über die Tunnel kein Zement, kein Stahl und kein Kies mehr kommt, verlieren die Menschen im Gazastreifen, die auf einer Baustelle arbeiten, ihren Job, weil kein Material mehr da ist.

Auch Treibstoff kann jetzt nur noch von Israel aus eingeführt werden. Der ist zwei oder dreimal so teuer wie der Sprit, der aus Ägypten kam. Generatoren laufen zu lassen, können sich also längst nicht mehr alle leisten. Aber ohne Strom können mittelständische Firmen in Gaza nichts produzieren. Das heißt, sie werden ihre Arbeiter kündigen. Davon abgesehen haben die Menschen aber auch keinen Zugang mehr zu den traditionellen Märkten, was das Westjordanland wäre, zum Teil aber auch Israel und Ägypten, weil die ganzen Grenzen geschlossen sind. Der Mangel an Strom wirkt sich außerdem auf die Wasserqualität aus. Der Betrieb der Entsalzungsanlagen beispielsweise musste seit Januar um 40 Prozent gedrosselt werden. Wenn Sie sich in Gaza die Zähne putzen, werden Sie nicht das Wasser aus der Leitung nehmen. Das ist brackig und salzig. Und wenn man morgens duscht, fühlt man sich, als wäre man gerade aus dem Mittelmeer gestiegen.

Haben die Menschen im Gazastreifen denn noch Hoffnung, dass sich diese Lage irgendwann bessert?

So lange die israelische Blockade anhält? Nein. Viele waren froh, als die Aussöhnung zwischen Fatah und Hamas in greifbare Nähe rückte. Seit 2007 war es jetzt das erste Mal, dass die Leute gesagt haben: Jetzt könnte sich etwas bewegen. Aber was die Aufhebung der Blockadepolitik Israels angeht, machen sich die Leute in Gaza keine Illusionen.

Das Interview führte Anne Allmeling.

Riad Othman ist Büroleiter der Hilfs- und Menschrechtsorganisation Medico International in Israel und Palästina mit Sitz in Ramallah.