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Opposition wie gelähmt

Andreas Gorzewski3. November 2015

Die gespaltene Opposition in der Türkei hat die regierende AKP von Präsident Erdogan nicht in Bedrängnis bringen können. Neue Köpfe und Konzepte scheinen nötig, um künftig einmal gegen die AKP bestehen zu können.

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HDP-Ko-Chef Selahattin Demirtas stellt sich nach der Stimmabgabe am 1. November 2015 den Journalisten - Foto: Emrah Gure (AP)
Bild: picture-alliance/AP Photo/E. Gurel

Während die türkische Regierungspartei AKP nach ihrem unerwartet hohen Wahlerfolg am Sonntag im Siegestaumel ist, hat die geschlagene Opposition noch keinen Weg aus ihrer Schockstarre gefunden. Der Führer der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, sonst ein eifriger Twitter-Nutzer, gab im Netz zunächst keinen Kommentar ab. Von der nationalistischen MHP war außer massiven Vorwürfen gegen die AKP wenig zu hören. Die pro-kurdische HDP beklagte die eigene Benachteiligung. Rücktritte von Spitzenpolitikern, in vielen Ländern nach Niederlagen üblich, gab es am Tag nach der Wahl nicht. Dabei mahnen Beobachter, dass sich die Opposition dringend erneuern müsse.

Die Neuwahl hat die politische Hängepartie nach der Abstimmung am 7. Juni beendet. Damals hatte die seit 2002 allein regierende islamisch-konservative AKP ihre absolute Mehrheit im Parlament verloren. Doch CHP, MHP und HDP konnten sich nicht auf eine mögliche Koalition einigen. Zu groß waren die Gräben. Vor allem für die MHP, zu deren türkischstämmigen Anhängern in Deutschland auch die extremistischen "Grauen Wölfe" gehören, war eine Regierungsbildung mit Kurden undenkbar.

Für Verfassungsänderung reicht es nicht

Nun konnte die AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach vorläufigen Ergebnissen ihren Stimmenanteil von damals 40 auf knapp 50 Prozent vergrößern. Sie stellt voraussichtlich 317 der 550 Abgeordneten und kann wieder allein regieren. Für ihr großes Ziel, die Türkei per Verfassungsänderung in eine Präsidialrepublik zu verwandeln, reicht die Zahl der AKP-Mandate jedoch nicht aus.

Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli - Foto: Adem Altan (AFP)
MHP-Chef Bahceli: "Nationaler Wille verzerrt"Bild: Getty Images/AFP/A. Altan

Im Oppositionslager konnte allein die Republikanische Volkspartei (CHP) ihren Anteil von etwa einem Viertel der Wählerstimmen halten. Sie erhielt 134 Sitze. Große Verliererin der vorgezogenen Neuwahl ist die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Von den zuvor 80 Sitzen dürfte sie die Hälfte verlieren. In einer Mitteilung ließ MHP-Chef Devlet Bahceli Selbstkritik vermissen. Er schimpfte vielmehr, Erdogans AKP habe Angst und Schrecken in der Gesellschaft verbreitet und das Land an den Rand des Abgrundes manövriert. "Dass der nationale Wille verzerrt wurde, indem Drohungen und Erpressungen als Waffe eingesetzt wurden, ist offenkundig", klagte Bahceli. Er warf der AKP vor, eine Regierungskoalition ausgeschlossen zu haben, obwohl sich seine MHP selbst beharrlich eine Koalition verweigert hatte.

HDP sieht sich als Sieger

Zu einer überraschenden Bewertung kam Selahattin Demirtas, Ko-Parteichef der Demokratischen Partei der Völker (HDP). "Es ist klar ein großer Sieg für die HDP", sagte Demirtas, obwohl die auch von vielen linksliberalen Türken gewählte Partei gegenüber der Juni-Wahl eine Millionen Stimmen eingebüßt hatte. "Wir haben es als Partei geschafft, aufrecht zu bleiben gegen all die Massaker-Politik und gegen den Faschismus", erklärte er trotzig. Die Partei verlor 21 ihrer zuvor 80 Sitze, schaffte es aber immerhin, erneut über die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins türkische Parlament zu kommen.

Selahattin Demirtas (HDP) - Foto: Stringer (AFP)
HDP-Politiker Demirtas: Eine Millionen Stimmen eingebüßtBild: Getty Images/AFP

Für den überraschend deutlichen Sieg der AKP und das Versagen der Opposition gibt es mehrere Gründe. Ismet Akca, Politikwissenschaftler an der Yildiz-Technical-University in Istanbul führt den Stimmungsumschwung zurück auf die Eskalation der Gewalt zwischen türkischer Armee und der kurdischen Arbeiterpartei PKK sowie auf Selbstmordattentate wie im Oktober in Ankara. Für den Anschlag in der Hauptstadt, bei dem fast 100 Menschen ums Leben kamen, hatten die Behörden die Terrormiliz "Islamischer Staat" verantwortlich gemacht. "Die Erwartung bestand, dass die nationalistische MHP davon profitiert, doch das Gegenteil passierte", zitiert ihn das Internetportal Al-Monitor.

Gewalt spielte AKP in die Hände

Auch die Journalistin Nuray Babacan sieht in der englischsprachigen Zeitung "Hürriyet Daily News" in der Gewalt einen Grund für den AKP-Triumph. "Der zunehmende Terror erzeugte eine Wahrnehmung, dass nur eine starke und stabile Regierung mit solchen Angriffen fertig werden könne", schreibt Babacan. Sie machte darüber hinaus die Blockadehaltung der MHP für den Absturz des nationalistischen Lagers verantwortlich. Außerdem habe die AKP Rentnern und Geringverdienern mehr Geld versprochen.

Der CHP-Vorsitzende Kilicdaroglu bei der Stimmabgabe am 1. November 2015 - Foto: Reuters
CHP-Vorsitzender Kilicdaroglu bei Stimmabgabe: Ohne MachtperspektiveBild: Reuters

Scharf ins Gericht mit der Opposition geht Kommentator Mehmet Yilmaz im türkischen Massenblatt "Hürriyet". Er hält den Parteiführern vor: "Ihr seid unzureichend!" CHP-Chef Kilicdaroglu habe es niemals geschafft, der größten Oppositionspartei eine Machtperspektive zu geben. Wenn sich die verkrustete Partei nicht von Grund auf erneuere, werde das auch bei kommenden Wahlen so bleiben. Der MHP wirft Yilmaz vor, dass niemand nachvollziehen könne, wofür die Partei eigentlich stehe. Und die HDP habe trotz ihrer Kontakte zur PKK nicht geschafft, die blutigen PKK-Angriffe auf Sicherheitskräfte zu stoppen. Dafür sei sie von vielen Wählern abgestraft worden.

Umstritten bleibt, wie groß die Chancen der Regierungsgegner gewesen wären, wenn die Wahl nicht im Zeichen von Terror und Gewalt stattgefunden hätte. Auch die massive Einschränkung der Pressefreiheit durch die Schließung mehrerer regierungskritischer Medien dürfte der AKP genutzt haben. Ali Carkoglu lässt jedenfalls die Instabilität nicht als Entschuldigung für die klare Wahlniederlage gelten. Die unterlegenen Parteien dürfen nicht über die Umstände jammern. "Sie müssen diese Umstände annehmen und passende Strategien dafür entwickeln", fordert der Istanbuler Politikwissenschaftler.