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Szene in Berlin

Stuart Braun / ad7. Juli 2015

Einige Berliner Bibliotheken wollen ihr Inventar verkleinern. Während besorgte Besucher für ihr Recht zu lesen kämpfen, sinniert DW-Reporter Stuart Braun über eine heilige Institution.

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Saal der Staatsbibliothek in Berlin (Foto: picture alliance/akg-images/L. M. Peter)
Bild: picture-alliance/akg-images/L. M. Peter

In Büchereien habe ich viel Zeit verbracht. Das sind Orte, an denen ich recherchiere und schreibe - aber auch Orte, um der Wirklichkeit zu entfliehen und in dieser wundervollen Stille vor mich hin zu brüten. In dem großartigen Lesesaal der alten British Library - der mit der kuppelförmigen Decke - habe ich ganze Wochen verbracht, bevor er 2007 geschlossen wurde. Ich habe mich immer gern in der Nähe der Stelle niedergelassen, an der Karl Marx einst "Das Kapital" verfasste. Ich habe in allen möglichen Büchereien herumgehangen - im Iran, in Tasmanien und in Kopenhagen.

Nach meinem Umzug nach Berlin war ich zutiefst beeindruckt von den zahlreichen Büchereien, zu denen man Tag und Nacht Zugang hat, zu einigen sogar sonntags. Kein Wunder, schließlich soll ja ein Deutscher den Buchdruck erfunden haben.

Die große Vielfalt von Büchereien in Berlin erschien mir wie ein lebensnotwendiger - und kostenloser - öffentlicher Raum, in den die Einwohner sich zurückziehen konnten, um fernab von ihren Mietskasernen zwischen diesen weisen, mit uralten und neuen Büchern bestückten Regalen Trost zu finden. Mir wurde auch klar, dass sich irgendwie die gesamte Geschichte Berlins in diesen Büchereien wiederfindet. In Büchereien, die zu Opfern des Faschismus, der alliierten Bombardements und des Kalten Krieges wurden, aber auch zu Orten des Widerstands und der Wiedervereinigung - und damit unweigerlich auch zur Szenerie von politischen Umbrüchen.

Die Anti-Reform

Vor kurzem las ich eine Petition von Bürgern, die sich angesichts der anstehenden Strukturreform und Rationalisierungsmaßnahmen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) große Sorgen machen. Offensichtlich werden die Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen.

Unter dem Vorwand einer Digitalisierung sei es vorgesehen, "diverse Bestände abzubauen", warnt eine Organisation, der Kulturschaffende, Autoren, Studenten, Filmemacher, Rentner, Kuratoren, Akademiker, Eltern, Künstler, Verleger, Buchhandlungen, Theaterleute und Intellektuelle angehören. Sie alle haben sich gegen die Kürzungen ausgesprochen und im Juni ihre Petition "Rettet die ZLB" mit mehr als 20.000 Unterschriften beim Berliner Senat eingereicht: Darin fordern sie eine öffentliche Diskussion über die Reformen. Der ZLB-Plan sieht angeblich eine Standardisierung der Bestände in ihren 80 regionalen und zwölf Hauptbibliotheken vor. Dadurch soll Geld eingespart werden. Doch die Maßnahmen könnten auch bedeuten, dass es zukünftig weniger fremdsprachige Werke geben wird - und weniger Bücher, die sich Themengebieten widmen, die nicht so stark nachgefragt werden. Stattdessen würde der Bestand an populärem Mainstream ansteigen.

Themenbild der Kolumne Scene in Berlin (Grafik: DW/Peter Steinmetz)

Ich liebe es, wie sich die Berliner auf ihre unnachahmliche Weise über die Zukunft ihrer wertvollen öffentlichen Büchereien aufregen. ZLB-Direktor Volker Heller hat seine Pläne öffentlich verteidigt. Demnach sei zwar das Budget nicht gekürzt worden, wohl aber sei das Personal zu knapp, um der Nachfrage nach neuen digitalen Medien nachzukommen. Deshalb würden viele der einzigartigen gebundenen Bücher außerhalb der Bibliotheken gelagert werden - und einige stark nachgefragte Bestseller könnten ihren Platz einnehmen.

Während E-Bücher in den USA bereits 30 Prozent aller verkauften Bücher ausmachen, sind es in Deutschland nur sechs Prozent. Das liegt unter anderem daran, dass gebundene Bücher in Deutschland steuervergünstigt sind, während E-Books als normale Ware angesehen werden und deshalb der Mehrwertsteuer von 19 Prozent unterliegen. Das macht sie für Büchereien mit kleinem Budget unerschwinglich. Laut einer im Mai veröffentlichten Studie steigen die Besucherzahlen traditioneller Büchereien in Deutschland trotzdem an, also der Häuser, die sich immer noch auf nicht digitalisierte Ware und gebundene Bücher konzentrieren.

Das überrascht mich nicht. Irgendwie scheint das ja die Unterstützer der ZLB, "Berlins populärster Institution im Kultur- und Erziehungsbereich", zu rechtfertigen,

Gebäude der Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin (Foto: picture alliance/dpa/P. Zinken)
Die Amerika-Gedenkbibliothek war ein Geschenk in der NachkriegszeitBild: picture alliance/dpa/P. Zinken

Zufluchtsort für Engel

Ich bin einer jener Leser, die die ZLB so ungemein populär machen. Zunächst habe ich in Berlin eine ganze Reihe von lokalen und Universitätsbibliotheken erforscht. Dann entdeckte ich das reiche Angebot der Staatsbibliothek - sie wurde vom selben Architekten geschaffen, der auch die Konzerthalle der Berliner Philharmonie entwarf: von Hans Scharoun. Vier Jahre lang habe ich mich fast jeden Tag in dieses riesige Ideenreich aus Glas und Beton zurückgezogen - und während dieser Zeit ein Buch über meine Wahlheimat Berlin vollendet.

Der West-Berliner Zweig dieser einst zwischen West- und Ost-Berlin geteilten Bibliothek ist mit ihrer aus mehreren Millionen Werken bestehenden Sammlung - darunter auch eine original Gutenberg-Bibel - wohl die größte wissenschaftliche Bibliothek Deutschlands. Sie wird permanent stark von Intellektuellen und Wissenschaftlern aus aller Welt besucht. Unsterblich wurde sie durch Wim Wenders Film "Der Himmel über Berlin". Hier schweben Engel auf den höheren Ebenen des Gebäudes, bevor sie zur goldbeflügelten Siegessäule mit der Siegesgöttin Viktoria zurückkehren. Durch die großen Fenster der Bibliothek mit Blick auf den Tiergarten kann ich die Viktoria jetzt sehen.

Der Original-Standort (und jetzige Ost-Berliner Zweig) der Staatsbibliothek - an der berühmten Straße "Unter den Linden" - hatte einst einen klassischen Lesesaal mit kuppelförmigem Dach, so wie die British Library. Doch während des Zweiten Weltkriegs fiel eine Bombe darauf. Die Nazis terrorisierten zudem das Personal, verbrannten einige Bücher und weigerten sich, die Anschaffung ausländischer Werke zu finanzieren. Nach dem Krieg geriet die Staatsbibliothek unter sowjetische Kontrolle. Am Bebelplatz (auf der anderen Seite der Straße) kann man heute eine Inschrift lesen - ein prophetisch anmutendes Gedicht Heinrich Heines von 1820: "Das war nur der Anfang. Zuerst verbrennt man Bücher, und bald wird menschliches Fleisch brennen."

Aber Berlin hat noch so viele andere Bibliotheken - darunter die Amerika-Gedenkbibliothek, die der Stadt nach dem Krieg von ihren Besatzern gestiftet wurde und die über eine seltene Mischung aus wissenschaftlichen Werken sowie Belletristik aus aller Welt verfügt. Aus diesem Grund leiht sich meine Partnerin dort einen großen Teil ihres Lesestoffs für die Uni aus, den sie dann im Lesesaal abarbeitet.

Lesesaal in der Berliner Staatsbibliothek (Foto: DW/S. Braun)
Stuart Brauns Lieblingsplatz in der Berliner StaatsbibliothekBild: DW/S. Braun

Diese einzigartige öffentliche Institution könnte jetzt bedroht werden - durch eine Plage, die in Bedrängnis geratene Büchereien auf der ganzen Welt heimsuchen könnt.: Man nennt sie Digitalisierung. Historische und wissenschaftliche Materialien könnten alsbald in Lagerhallen landen.

Was auch immer passiert: Bibliotheken überall, nicht nur in Berlin, sind für mich wie Kirchen. Entscheidungen über ihre Reform müssen öffentlich diskutiert werden - so bald wie möglich.