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Nicole Anyomi: Straßenkickerin im Nationaldress

Jonathan Harding
23. Oktober 2020

Sie ist eine der Neuen im DFB-Kader für das anstehende Freundschaftsspiel gegen England: Nicole Anyomi. Ihren Weg von den Anfängen als Straßenkickerin bis zur Nationalelf beschreibt sie im DW-Interview.

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Deutschland Frauenfussball Nicole Anyomi  im Spiel Bayer Leverkusen - SGS Essen
Bild: Revierfoto/dpa/picture-alliance

Nicole Anyomi ist so aufgeregt, dass sie gar nicht weiß, was sie mit sich anfangen soll. Die 20 Jahre alte Stürmerin weilt zum ersten Mal im Kreise der Nationalelf, nominiert von Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg für das Freundschaftsspiel gegen England am kommenden Dienstag (27. Oktober).

"Ich war sprachlos, ich konnte es nicht glauben", erzählt Anyomi im Telefoninterview mit der DW, nachdem sie sich einen Nachmittag lang via Handy mit ihren Teamkolleginnen Marina Hegering, Sydney Lohmann, Linda Dahlmann und Lea Schüller ausgetauscht hat. 

"Ich habe ihnen erzählt, wie aufgeregt ich bin. Und sie haben versucht, mich zu beruhigen. Aber die Nervosität wird von Tag zu Tag irgendwie größer", erzählt Anyomi lachend. Ihrer Mutter, die dachte, ihre Tochter habe es in die U20-Auswahl des DFB geschafft, musste sie den Coup erst erklären: "Nee Mama, ich bin für die A-Nationalmannschaft nominiert!"

Für Anyomi geht, wie für die meisten Sportler, die ihr Heimatland vertreten dürfen, ein Traum in Erfüllung. Harte Arbeit ist die Grundlage dafür, und im Falle Anyomis auch: Bruderliebe.

Ronaldinhos Tricks und Ronaldos Freistoßtechnik 

Nicole Anyomi wird in Krefeld geboren und wächst dort auf. Zum Fußball kommt sie durch ihre beiden Brüder. Die kicken begeistert im Garten. Klar, dass sie als Schwester da einfach mitmischt. 

Frauenfussball Nicole Anyomi bei dem Spiel SGS Essen - Bayer 04 Leverkusen
Erste Dribbelduelle mit ihren Brüdern bringen Anyomi zum FußballBild: Revierfoto/dpa/picture-alliance

Daraus entwickelt sich echte Leidenschaft. Lieber selber spielen, als beim Fußball zuschauen, ist ihre Devise. Eine Ausnahme macht sie nur, um sich die Tricks von Ronaldinho oder Ronaldos Freistoßtechnik abzuschauen. Dinge, die sie da brauchen kann, wo sie sich am wohlsten fühlt: auf dem Spielfeld.

Anyomi spielt in ihrer Jugend wann immer und wo immer sie kann - meistens mit Jungs: "Am Anfang gab es natürlich Sprüche. Als Mädchen wurde man meistens als letzte [ins Team - Anm. d. Red.] gewählt, weil die Jungs dachten, ich kann nicht Fußball spielen. Ich habe ihnen das Gegenteil bewiesen, und beim nächsten Mal wurde ich dann häufiger als Erste gewählt", erinnert sie sich. 

"Wir hatten immer Spaß und haben uns oft zum Kicken getroffen", erzählt Anyomi. "Irgendwann war es dann so, dass die Jungs mich auch gegenüber anderen verteidigt haben, bei Fouls zum Beispiel, oder gegen blöde Sprüche."

Über Gladbach nach Essen

2012 wird aus der Hobbykickerin eine Nachwuchsfußballerin bei Borussia Mönchengladbach. In dem Mädchenteam findet sie sich schnell zurecht. Ihr Talent sticht hervor, nicht nur bei ihren Mitspielerinnen und den Eltern, sondern nach einiger Zeit auch bei Sichtungslehrgängen des regionalen Verbands und des DFB. Während ihr sportlicher Weg also Fahrt aufnimmt, hat Anyomi ihre liebe Not mit den Verpflichtungen für Training und Spiele. 

"Familie kommt für mich an erster Stelle. Ohne ihre Unterstützung hätte ich es nie so weit geschafft, sie waren immer für mich da", sagt die Neu-Nationalspielerin. "Damals musste ich mit dem Zug zum Training oder zu den Spielen fahren, weil meine Eltern immer auf der Arbeit waren. Sie haben aber immer irgendwie dafür gesorgt, dass mich jemand mitnahm oder sie mich danach abholten."

Nach dem erfolgreichen Auftakt in Mönchengladbach wechselt Anyomi 2014 ins Nachwuchszentrum nach Essen. Drei Jahre lang durchläuft sie dort die Ausbildung, trainiert und spielt mit älteren Teamkolleginnen. Zum ersten Mal realisiert sie, dass ihr Traum vom Profifußball greifbar nahe ist. Mittlerweile gehört sie zu den Leistungsträgerinnen des Klubs, doch Anyomi ist bewusst, dass sie noch am Anfang steht.

Besser werden, konstanter spielen

"Ich arbeite daran, regelmäßiger in der Startelf zu sein, konstanter Leistung zu bringen. Ich habe ein Spiel gut gespielt und dann drei wieder nicht so gut. Und dann war es klar, dass ich wieder auf der Bank lande", sagt Anyomi. "Manchmal hat meine Einstellung nicht gestimmt, auch meine Körpersprache, weil ich oft negative Gedanken hatte. Ich arbeite daran, das zu ändern, positiver zu sein, weniger Verletzungen zu erleiden und stressfrei in meinem Kopf zu sein."

So viel Selbstreflexion bei einer jungen Spielerin mag ungewöhnlich sein, überraschen sollte es bei Anyomi nicht. Die 20-Jährige hat ihren eigenen Kopf und schreckt auch vor Unbequemem nicht zurück: im Zuge der "Black Live Matters"-Bewegung schilderte sie ihre Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland.   

Deutschland Frauenfussball Bayer Leverkusen - SGS Essen
Anyomi positioniert sich klar und öffentlich gegen RassismusBild: Rolf Vennenbernd/dpa/picture-alliance

Mit großem Interesse verfolgt sie die Spielweise von Jadon Sancho, Marco Reus, oder Romelu Lukaku - allesamt Spieler, die wie sie auf der linken Seite oder im Sturmzentrum aktiv sind. Auch die Torgefährlichkeit von BVB-Supertalent Youssoufa Moukoko, erst 15 Jahre alt, begeistert Anyomi: "Wow, wie viele Tore er schießt! Das möchte ich eigentlich am liebsten nachmachen."

Ihre aktuelle Torbilanz mit 16 Treffern in 79 Spielen für die SGS Essen ist eher durchwachsen. Aber dass sie torgefährlich sein kann, hat sie längst bewiesen. In der U17 von Rot-Weiß-Essen traf sie 37-mal in nur 34 Spielen, für die deutsche U17-Auswahl erzielte sie 17 Tore bei 20 Einsätzen.

Anyomi glänzt vor allem durch ihr Tempo, ihre Durchsetzungsfähigkeit und die hohe Qualität im Abschluss. Jetzt will sie ihre Stärken auch im Nationaltrikot unter Beweis stellen, im Spiel gegen England - aller Aufregung im Vorfeld zum Trotz. 

Adaption: Jens Krepela