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Stasi-Überprüfungen bis 2019

30. September 2011

Zwei Jahrzehnte haben Ex-Stasi-Mitarbeiter in der Behörde gearbeitet, die das Erbe des DDR-Geheimdienstes verwaltet. Der neue Behördenchef will das den Opfern nicht mehr zumuten. Die Bundestagsmehrheit gibt ihm recht.

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Braungelbe Stasi-Akten in Großformat
Wahrheitssuche in AktenBild: AP

Rund 1600 Beschäftigte hat die Stasi-Unterlagen-Behörde noch. 45 von ihnen waren einst selbst Stasi-Mitarbeiter. Eingestellt wurden sie Anfang der neunziger Jahre vom ersten Bundesbeauftragten, Joachim Gauck, der sich mit ihrer Hilfe in den komplizierten Registern und kilometerlangen Aktenbeständen zurechtfinden wollte. Andere bekamen einen Job, weil sie als Fahrer oder Wachleute als relativ unbelastet galten. Doch 20 Jahre später macht der neue, dritte Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, klar, dass er keine früheren Stasi-Mitarbeiter in seinem Haus dulden will.

Porträt von Roland Jahn
Will keine Ex-Stasimitarbeiter in seinem Haus: Roland JahnBild: DW-TV

Der 58jährige Journalist und einstige DDR-Bürgerrechtler, der selbst sechs Monate inhaftiert war und später zwangsweise in die Bundesrepublik abgeschoben wurde, sagt: "Jedes Stasi-Opfer, das zu uns kommt, kann einem Ex-Stasi-Mann am Eingang begegnen". Das sei wie ein Schlag ins Gesicht, manche zu DDR-Zeiten Verfolgte würden sich deshalb gar nicht an seine Behörde wenden.

Die vom neuen Bundesbeauftragten für die Stasi-Akten angestrebte Versetzung früherer Stasi-Beschäftigter in andere Behörden sorgte am Freitag (30.09.2011) für Streit zwischen Regierung und Opposition bei der Abstimmung über die Neufassung des Stasi-Unterlagengesetzes im Bundestag. Sie war notwendig, weil die im Gesetz vorgesehenen Stasi-Überprüfungen im öffentlichen Dienst bis Ende 2011 befristet waren.

Während Union und FDP die zwangsweise Umsetzung der Beschäftigten bei gleicher Bezahlung in eine andere Bundesbehörde als zumutbar und rechtsstaatlich einwandfrei bezeichneten, kritisierten SPD, Grüne und Linke, der neue Paragraph im Gesetz sei mit Verfassung und Arbeitsrecht nicht in Einklang zu bringen.

Überprüfung ohne Verdacht möglich

Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse sagte, als weiteren wesentlichen Punkt lehne die SPD die im Gesetz vorgesehene Ausweitung des Personenkreises ab, der mit Hilfe der Stasi-Unterlagen überprüft werden kann. Über 20 Jahre nach dem Fall der Mauer sei diese Regelung schlicht unverhältnismäßig:

"Die vergangenen zwei Jahrzehnte müssen bei einer Beurteilung einer Person und ihrer Tätigkeit genauso zählen, wie das möglicherweise moralisch falsche Handeln in der DDR." Vertrauen in die Veränderbarkeit von Menschen ist laut Thierse eine wesentliche Grundlage rechtsstaatlicher Demokratie.

Ein Mitarbeiter der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen zwischen Aktenregalen (Foto: dpa)
Kilometerlange Stasi-AktenBild: dpa - Bildfunk

Das Stasi-Unterlagen-Gesetz, das bereits zum achten Mal novelliert wird, erlaubt dem Arbeitgeber künftig nicht nur die Überprüfung von Behördenleitern sondern auch von leitenden Beamten und Angestellten, höheren Polizeioffizieren und Richtern. Außerdem kann beispielsweise auch über die Vergangenheit von ehrenamtlichen Bürgermeistern in den rund 111 Kilometer langen Aktenregalen der Stasi recherchiert werden.

Sämtliche Überprüfungen sind nach dem Willen der Regierung ohne konkreten Verdacht möglich, wie der FDP-Abgeordnete Reiner Deutschmann betonte. Man wolle verhindern, dass die Täter von damals im öffentlichen Dienst Karriere machten.

Deshalb habe man die Überprüfungsmöglichkeit auch auf die mittlere Leitungsebene ausgeweitet. "Und zwar ohne Vorliegen eines Verdachts", sagte Deutschmann, "sonst hinge es von Journalisten oder gar von Denunzianten ab, ob zufällig etwas über jemanden an die Öffentlichkeit gelangt".

Linke beklagt gesellschaftliches Klima

Weil die Regierung nach Ansicht der Opposition zwei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR über das Ziel hinaus schieße, wurde erstmals eine Novelle des Stasi-Unterlagengesetzes nicht im Konsens zwischen Union, FDP, SPD und Grünen verabschiedet. Sozialdemokraten und Grüne enthielten sich bei den meisten Änderungen der Stimme.

Die Linke stimmte erneut gegen das Gesetz. Für eine wirkliche Aufarbeitung sei eine andere gesellschaftliche Atmosphäre notwendig, sagte die Abgeordnete Rosemarie Hein: "Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung sehen sich leider viele noch nicht in der Lage, eine Verstrickung oder gar Schuld öffentlich zu bekennen, weil dieses Bekenntnis noch heute mit dem Verlust des Arbeitsplatzes enden kann und damit auch eine existentielle Bedrohung bedeutet." Mit der Verlängerung der Geltungsdauer bis 2019 gehe das Gesetz außerdem weit über die Dauer strafrechtlicher Verjährungsfristen hinaus, kritisierte die Linke.

Dagegen betonten alle anderen Parteien, sie seien gegen einen Schlußstrich und verwiesen auch auf das ungebrochene Interesse der Bürger. So gab es im vergangenen Jahr fast 90.000 neue Anträge auf Akteneinsicht.


Autor: Bernd Gräßler
Redaktion: Bettina Marx