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PolitikEuropa

NATO: Ukraine hat Polen beschossen, ist aber unschuldig

16. November 2022

Russland trage die Verantwortung für den Vorfall in Polen, sagt die NATO, weil die Ukraine sich verteidigen müsse. Die verirrte Rakete sei ein Unglück, aber kein Angriff. Aus Brüssel Bernd Riegert.

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Nato-Hauptquartier in Brüssel
NATO-Hauptquartier in Brüssel: Sondersitzung der 30 Botschafter zum Vorfall in PolenBild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Der polnische Botschafter bei der NATO, Tomasz Szatkowski, unterrichtete seine 29 Kollegen aus den NATO-Mitgliedsstaaten zusammen mit führenden Militärs der Allianz. Sein Fazit nach der Raketenexplosion mit zwei Todesopfern in einem polnischen Dorf an der ukrainischen Grenze: Dies war kein gezielter Angriff auf Polen und damit NATO-Gebiet. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte nach der Sitzung des NATO-Rates vor der Presse, es gebe keine Anzeichen für einen bewussten Angriff. "Es gibt kein Anzeichen, dass Russland einen Angriff auf NATO-Gebiet vorbereitet", so Stoltenberg.

Wahrscheinlich ein Geschoss aus der Ukraine

Es sei eher sehr wahrscheinlich, dass es sich beim Geschoss um eine Flugabwehr-Raketen aus russischer Produktion handele, die von einer ukrainischen Batterie abgeschossen worden sei, um einen russischen Angriff abzuwehren. Der Generalsekretär bestand mehrmals in seiner Pressekonferenz darauf, dass dieser Vorfall nicht die Schuld der Ukraine sei. "Russland ist letztlich für all das verantwortlich, weil es einen illegalen Krieg gegen die Ukraine führt", sagte Jens Stoltenberg. Die Ukraine habe jedes Recht, sich gegen die russischen Raketenangriffe, die am Dienstag wieder massiv zivile Infrastruktur zerstört haben, zu wehren.

Belgien NATO Generalsekretär Jens Stoltenberg beim NATO Verteidigungsministertreffen
Jens Stoltenberg: Keine Anzeichen für einen geplanten russischen Angriff auf die NATOBild: KENZO TRIBOUILLARD/AFP

Lücken bei der NATO-Abwehr?

Die Untersuchungen seien noch nicht abgeschlossen, hieß es vom polnischen Botschafter bei der NATO und vom Generalsekretär der Militärallianz. Deshalb sei es auch noch zu früh für finale Schlussfolgerungen. Klar sei aber, dass die NATO prüfen werde, ob sie ihre eigene Raketenabwehr an der Ostflanke verstärken müsse. Auf Nachfrage von Journalisten bestand Stoltenberg darauf, dass die Explosion einer fehlgeleiteten Rakete nicht auf Lücken in der Luftabwehr schließen lassen. "Hier ging es ja nicht um einen Angriff, sondern um eine Rakete, die zur Abwehr abgefeuert worden ist", sagte Stoltenberg. Deshalb hätten die Luftabwehrabwehrsysteme der NATO auch nicht reagiert. Fragen nach weiteren technische Einzelheiten wollte Jens Stoltenberg mit Hinweis auf laufende Untersuchungen nicht beantworten. Wenn der Oberbefehlshaber der NATO es für nötig halte, könne er jederzeit weitere Luftverteidigung an die Ostflanke verlegen. Die Kapazitäten seien vorhanden.

"Wir werden wachsam, ruhig und eng koordiniert vorgehen", sagte er ehemalige norwegische Ministerpräsident, der seit 2014 an der Spitze der Allianz steht und seither etliche Krisensitzungen zum Thema Russland und Ukraine abhalten musste. "Wir waren besorgt gestern", gestand Jens Stoltenberg zu. "Aber jetzt müssen wir sicherstellen, dass diese gefährliche Situation nicht außer Kontrolle gerät."

Russland | S-300 Flugabwehrraketensystem
Raketensystem S-300 aus Sowjetzeiten: Russland und die Ukraine verfügen über diese Waffe (Archiv)Bild: Donat Sorokin/ITAR-TASS/imago

Artikel 4 nicht aufgerufen

Um die Lage nicht weiter zu verschärfen, hat Polen darauf verzichtet, förmliche Konsultationen der NATO-Partner nach Artikel 4 des Nordatlantik-Vertrages zu beantragen. Die sind vorgesehen, wenn sich ein NATO-Staat in seiner Souveränität oder von möglichen Angreifern bedroht fühlt. Im März, kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, hatte es solche förmlichen Konsultationen auf Antrag von acht NATO-Staaten an der Ostflanke gegeben. Seither hat die NATO ihre Truppen in diesen Staaten, besonders in Polen, Rumänien und im Baltikum verstärkt. Oberstes Ziel sei es jetzt, so NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, die Luft- und Raketenverteidigung der Ukraine zu verstärken, um russische Attacken besser abwehren zu können.

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba hatte vor der NATO-Sitzung die Annahme, dass die Ukraine die Rakete abgeschossen habe, als russische Verschwörungstheorie bezeichnet. Das russische Verteidigungsministerin behauptet seit gestern, nichts mit dem Vorfall zu tun zu haben. Keine russische Rakete sei näher als 35 Kilometer zur polnisch-ukrainischen Grenze abgefeuert worden.

Im März hatte es einen ähnlichen Fall schon einmal geben. Damals war eine bewaffnete Drohne alter sowjetischer Bauart über NATO-Gebiet bis nach Kroatien geflogen und in der Hauptstadt Zagreb auf Autos gestürzt ohne dass Menschen zu Schaden kamen. Kroatische Ermittler und Experten der NATO konnten nicht herausfinden, wer die Drohne gestartet hatte oder aus welcher Armee sie stammte. Sie trug sowohl sowjetische Hoheitszeichen als auch einen ukrainischen Anstrich in blau und gelb. Dieser Vorfall wurde im April zu den Akten gelegt ohne eine große Reaktion der Allianz zu erzeugen.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union