Nationalpark Wattenmeer
Er ist eines der größten Naturschutzgebiete in Deutschland und Weltnaturerbe der UNESCO: der Nationalpark Wattenmeer. Jährlich besuchen ihn Millionen Touristen. Höhepunkt ist eine Wattwanderung mit Führung.
Von der niederländischen Stadt Den Helder bis zum dänischen Blåvand zieht sich das Wattenmeer entlang der Nordseeküste. Es ist der bedeutendste Naturraum Europas. Nicht nur Deutschland, sondern auch die Niederlande und Dänemark haben das einzigartige Gebiet unter Naturschutz gestellt. In dem Begriff „Wattenmeer“ steckt „Watt“, eine Fläche, die bei Ebbe trocken liegt. Am 1. Oktober 1985 wurde in Schleswig-Holstein der erste Wattenmeer-Nationalpark ins Leben gerufen. Nicht alle waren damit einverstanden: Auf den großen Inseln, die im Wattenmeer liegen, regte sich ebenso Widerstand wie auf den sogenannten Halligen, den ganz kleinen Inseln. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie keinen Deich haben und die Häuser auf künstlich angelegten Hügeln liegen. Der damalige schleswig-holsteinische Landwirtschaftsminister Günter Flessner stellte das Projekt angesichts des Widerstands deshalb auch nur zurückhaltend vor:
„Es ist weitgehend eine naturbelassene Großlandschaft. Eine Vielzahl von Tier- und Pflanzenarten hat hier seinen entscheidenden Lebensraum. Die Schwierigkeiten der Beratung und auch der Diskussion sind Ihnen ja allen bekannt. Sie sind geprägt durch ein – wie wir sagen – Küstenbewusstsein.“
Flessner verharmlost den damaligen Streit durch die Verwendung des Begriffs Küstenbewusstsein. Wenn man „ein Bewusstsein für etwas hat“, dann ist es einem sehr wichtig – egal, ob es sich zum Beispiel um ein Bewusstsein für die Umwelt oder etwa für Behinderte handelt. Die Menschen fühlten sich damals allerdings durch den Nationalpark eingesperrt, ausgegrenzt. Sie fürchteten, nicht mehr jagen und fischen zu können. Vor allem dachten sie aber, dass nun keine Touristen mehr kommen würden. Da der damalige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Uwe Barschel, den Nationalpark aber unbedingt durchsetzen wollte, zwang er seinen Experten ein Zugeständnis nach dem anderen auf. Die Folge war, dass das Gesetz vor allem den Naturschützern am Ende nicht reichte. Die Mitarbeiter des neuen Nationalparks gaben sich deshalb alle Mühe, Vertrauen zu gewinnen, wie sich Nationalparkchef Detlef Hansen erinnert:
„Ja, wir sind von Gemeinde zu Gemeinde gezogen, von Saal zu Saal und haben versucht, Vertrauen zu schaffen, die Menschen – man sagt es so salopp – mitzunehmen. Wir haben Arbeitsgruppen, Arbeitskreise gegründet mit den Fischern, mit den Schäfern, mit den Jägern, um sie an den Entscheidungen zu beteiligen.“
Die Mitarbeiter versuchten, die Menschen für ihr Projekt zu gewinnen. Sie zogen bildlich gesprochen wie Werbevertreter von Gemeinde zu Gemeinde, erklärten in Veranstaltungsräumen, in Sälen, was der Nationalpark Wattenmeer ist. Sie versuchten, die Menschen zu begeistern, sie mitzunehmen – wie Detlef Hansen es bewusst locker, salopp, ausdrückt. Das ist gelungen. Was 1985 niemand geglaubt hat: Der Nationalpark wurde Stück für Stück verbessert. So wurde im Jahr 1990 ein Abkommen zum grenzüberschreitenden Schutz des Seehundbestandes im Wattenmeer vereinbart. Es war das erste Abkommen unter der „Konvention zum Schutz wandernder Tierarten“. Heute noch gilt das Abkommen zwischen Deutschland, den Niederlanden und Dänemark als wegweisend für multinationale Artenschutzprogramme. Doch nicht nur für den erfolgreich geretteten Seehundbestand im Wattenmeer war der Nationalpark ein Erfolg:
„Der Nationalpark ist das Beste, was dem Wattenmeer passieren konnte 1985. Wenn wir heute auf ‘m Deich stehen, dann erleben wir, dass in dem Gebiet Ruhe eingekehrt ist. Es findet keine Wasservogeljagd mehr statt, Tiefflüge sind Vergangenheit, militärische Erprobungen sind auch Geschichte. Besucher – wie auch zunehmend Einheimische – erfreuen sich an blühenden Salzwiesen, und das ist einer der großen Erfolge.“
Bis 1988/89 wurden im Wattenmeer Enten und Gänse gejagt. 1989 wurde die Jagd gesetzlich verboten. Mehr als zehn Jahre später wurde beschlossen, dass Militärmaschinen künftig nicht mehr im Tiefflug mit 150 Metern über das Wattenmeer fliegen dürfen, um Seehundkolonien und die Brut- und Rastgebiete von Zugvögeln zu schützen. Im Wattenmeer kehrte aber auch Ruhe ein, weil die Übungen des Militärs, die – wie Detlef Hansen sagt – militärischen Erprobungen weitgehend untersagt wurden. So konnten sich die Salzwiesen erholen. Diese mit Blumen bedeckten Wiesen, die bei jeder Flut überschwemmt werden, bilden den Übergang zwischen Meer und Land. Inzwischen sind fast 90 Prozent der Anwohner des Wattenmeers für den Nationalpark. Auch der Tourismus litt – anders als zunächst befürchtet – überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, wie eine Mitarbeiterin vom Nordsee-Tourismus Service sagt:
„An der Nordsee Schleswig-Holstein machen jährlich über zwei Millionen Gäste Urlaub. Und wir wissen aus Umfragen und Zählungen, dass über eine Million der Gäste, die zu uns kommen, auch die Einrichtungen des Nationalparks, der Schutzstation, des NABUs etc. besuchen, an Wattwanderungen, Exkursionen teilnehmen.“
Etwa die Hälfte derjenigen, die ihren Urlaub im schleswig-holsteinischen Teil der Nordsee verbringen, besucht das Watt. Dabei steht nicht nur eine von erfahrenen Führern geleitete Wanderung bei Ebbe, eine Wattwanderung, auf dem Programm. Die Besucher informieren sich unter anderem auch bei den etwa 20 Schutzstationen, was zum Schutz des Wattenmeeres getan wird. Der Nationalpark arbeitet zudem mit Freiwilligen und Naturschutzverbänden wie dem Naturschutzbund Deutschland, NABU, eng zusammen.
Das Engagement lohnt sich. Laut dem „World Wide Fund for Nature“, WWF, hat sich die Natur erholt, und zumindest im Watt sei das Aussterben vieler Tier- und Pflanzenarten gestoppt. Auch die Nordsee sei inzwischen sauberer und die Tiere im Watt zutraulicher als früher, sagt Hans-Ulrich Rösner vom WWF in Husum. Dennoch ist die Freude nicht ungetrübt:
„Der größte Schandfleck des Nationalparks, die Ölförderung auf der Mittelplate im Süden des Gebietes, findet nach wie vor statt. Nach wie vor können die Brandgänse in ihrem Mausergebiet, wo sie ihre Federn wechseln und flugunfähig sind im Sommer, wirklich nicht ungestört existieren. Nach wie vor ist Fischerei auch noch so intensiv, dass sie nicht wirklich naturverträglich stattfindet – und da muss sich schon noch was tun in der Zukunft.“
Das Aussehen und die Ruhe des Nationalparks werden gestört durch ein Ölfeld an seinem südlichen Rand. Es stellt einen hässlichen Schandfleck dar. Das Ölfeld liegt auf einer Sandbank im Bereich der Mittelplate, nach der es auch benannt wurde. Durch den Lärm werden die für das Wattenmeer charakteristischen Brandgänse während ihrer Mauser gestört. Bei der Mauser fallen ihnen alle Schwungfedern gleichzeitig aus. Sie sind dann etwa acht Wochen flugunfähig, bis die Federn nachgewachsen sind. Ein weiteres Problem ist – so Rösner –, dass im Nationalpark so viel gefischt wird, dass es immer weniger Fische gibt. Es ist damit nicht naturverträglich. Dennoch: Im Jahr 2009 wurde das Wattenmeer in der Nordsee von der UNESCO in die Liste des Weltnaturerbes aufgenommen. Im selben Jahr erklärte auch Dänemark nach der Erfolgsgeschichte in Deutschland seinen Teil des Wattenmeers zum Nationalpark. Dem Naturschutzgebiet setzt allerdings auch der Klimawandel zu. Der Meeresspiegel steigt und manchem Fisch ist es schon zu warm im Watt. Dafür gibt es inzwischen Fische wie Sardellen, die sich dort sehr wohl fühlen, aber eigentlich weiter im Süden leben.