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Multikulti in der Intensivklasse Deutsch

Anna Brockdorff19. November 2013

Aufgrund der Euro-Krise kommen immer mehr Familien aus Südost- und Südeuropa nach Deutschland. Durch Intensivklassen an den Schulen sollen sich die Kinder schnell einleben können.

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Gabrijel und Anthony spielen "Deutschlandreise" (Foto: DW/Anna Brockdorff)
Bild: DW/A. Brockdorff

Der 11-jährige Gabrijel bäumt sich auf, brummt bedrohlich, hebt die Arme in die Luft und spreizt die Finger, so dass die Hand in etwa wie eine Pranke aussieht. "Ach so" und "aha", kommt es aus verschiedenen Richtungen im Klassenraum. Spätestens jetzt haben alle Schüler verstanden, was ein Bär ist. "Den gibt's doch in zwei Farben, das eine ist ein Eisbär", ruft einer der Schüler. "Genau", sagt Lehrerin Anke Steinacker-Wölbing und nickt.

Weiter geht's im Text: "Schweizer Käse", "Ebenholz", "Flitzebogen". Mit Gebärden, Geräuschen und vielen Bildern erklären Schüler und Lehrerin die Begriffe. Einfach mal schnell vom Deutschen in die Muttersprache der Schüler übersetzen - das geht hier nicht. Denn die Schüler der Intensivklasse kommen aus Rumänien, Bulgarien, Polen und sogar Panama.

Die Schüler kommen tröpfchenweise in die Klasse

Schon seit Jahren steigt die Zahl der Schüler aus Zuwandererfamilien. Besonders seit Ausbruch der Euro-Krise sind deutlich mehr Familien nach Deutschland gekommen. Vergleicht man die ersten fünf Monate dieses Jahres mit demselben Zeitraum im Jahr 2012, so zeigt sich: Die Zuwanderung aus europäischen Staaten nach Deutschland hat um insgesamt 9,2 Prozent zugenommen. Vor allem aus Italien, Portugal und Spanien sind mehr Menschen nach Deutschland gekommen als im Vorjahreszeitraum - hier gibt es ein Plus von bis zu 40 Prozent. Die höchsten Zuwanderungszahlen aus dem europäischen Ausland nach Deutschland verzeichnen Bulgarien, Polen und Rumänien. Um die schulpflichtigen Kinder ohne Deutschkenntnisse auf den normalen Unterricht vorzubereiten, haben Schulen in ganz Deutschland sogenannte Intensiv-, Übergangs- oder Vorbereitungsklassen eingerichtet.

Lehrerin Anke Steinacker-Wölbing in der Intensivklasse im Unterricht. Sie zeigt den Schülern ein Stück Ebenholz (Foto: DW/Anna Brockdorff)
Die Lehrerin zeigt den Schülern ein Stück EbenholzBild: DW/A. Brockdorff

An der Sophienschule in Frankfurt am Main gibt es zwei verschiedene Intensivklassen. In die eine kommen die Schüler, die noch gar kein Deutsch können. Sobald sie etwas weiter sind, werden sie in die höhere Intensivklasse versetzt. Hier sollen sie so gut Deutsch lernen, dass sie in eine der regulären Schulklassen wechseln können.

Viele Intensivklassen sind überlaufen

In den Intensivklassen ist alles etwas anders. Hier sitzen Schüler verschiedener Altersstufen und Nationalitäten bunt gemischt. Und nicht nur das. Die Klasse verändert sich während des Schuljahres immer wieder, weil neue Schüler hinzukommen und andere wieder gehen. "Letztes Schuljahr waren wir mit über 20 Schülern komplett überlaufen", erinnert sich Steinacker-Wölbing.

Gabrijel aus Bosnien und Anthony aus Panama stehen vor dem Schrank mit den Wörterbüchern (Foto: DW/Anna Brockdorff)
Der wichtigste Schrank: Wörterbücher in zwölf verschiedenen Sprachen gibt es an der SophienschuleBild: DW/A. Brockdorff

Spätestens nach einem Jahr sollen die Schüler in reguläre Klassen kommen. Denn nur so können wieder neue Kinder in die Intensivklassen aufgenommen werden. Mehr als fünfzehn Schüler pro Klasse sollten es eigentlich nicht sein. Schließlich haben die Schüler ganz unterschiedliche Deutsch-Kenntnisse und Muttersprachen. Ein Schrank im hinteren Teil des Klassenzimmers ist deshalb besonders begehrt. "Dort haben wir Wörterbücher in zwölf verschiedenen Sprachen", sagt Lehrerin Steinacker-Wölbing.

Traumatisiserte Kinder aus Krisengebieten

Dem 12-jährigen Anthony gefallen am besten die Bilder-Wörterbücher: "Die Bücher sind so gut, Du hast ein Bild und weißt dann, was das in Deiner Sprache bedeutet." Anthonys Mutter kommt aus Panama, mit dem deutschen Vater sind sie vor acht Monaten nach Frankfurt gezogen. Panama ist eher die Ausnahme. Die meisten Kinder in der Intensivklasse kommen aus Kriegs- und Krisengebieten. Viele von ihnen haben Schlimmes erlebt, sind traumatisiert. Das geht auch Lehrerin Steinacker-Wölbing immer sehr nah.

Anthony zeigt das Pons-Bildwörterbuch (Foto: DW/Anna Brockdorff)
Anthony mag am liebsten die Bilder-WörterbücherBild: DW/A. Brockdorff

"Besonders extrem habe ich es während der Bosnien-Krise erlebt", erzählt sie. "Da hatte ich Schüler, die unter dem Tisch saßen, sobald sie ein Flugzeug gehört haben - aus Angst, sie könnten beschossen werden." Sie habe auch schon Kinder erlebt, die durch halb Afrika gelaufen seien. Bald, so vermutet die Lehrerin, wird sie auch Flüchtlings-Kinder aus Syrien unterrichten.

Wartezeiten bis zum ersten Schultag

Immer wieder schwere Schicksale, Kinder mit traurigen Geschichten und Erfahrungen - das ist auch für sie als Lehrerin nicht einfach. Aber die Atmosphäre in den Intensivklassen sei dennoch freundlich, erzählt sie. "Das ist ein geschützter Raum hier." Deshalb geht auch der 11-jährige Gabrijel gern in die Intensivklasse. "Alle sind so nett in der Klasse, niemand nervt mich", sagt er.

Gabrijel aus Bosnien im Unterricht in der Intensivklasse (Foto: DW/Anna Brockdorff)
Duden und Wörterbuch sind für Gabrijel aus Bosnien zurzeit die wichtigsten Hilfsmittel zum SpracherwerbBild: DW/A. Brockdorff

Gabrijel ist vor fünf Monaten mit seiner Mutter aus Bosnien ausgewandert, die in Deutschland auf eine besser bezahlte Arbeit hofft. Zur Schule geht er hier seit einem Monat. Der Grund: In Deutschland dürfen die Kinder erst am Schulunterricht teilnehmen, wenn sie beim Gesundheitsamt untersucht wurden. Kurzfristige Termine für diese Schuluntersuchung seien aber kaum zu bekommen, kritisiert Anke Steinacker-Wölbing. "Darum dauert es einige Zeit, bis die Kinder dann tatsächlich in der Intensivklasse sitzen."

Von der Intensivklasse zur Universität

Wie es dann nach der Intensivklasse weiter geht, hängt vor allem von den Schülern selbst ab. Die meisten Intensivklassen sind Hauptschulen angegliedert. "Aber die Tür nach oben ist natürlich immer offen", sagt Lehrerin Steinacker-Wölbing. Einer ihrer ehemaligen Schüler studiere jetzt an der Universität, erzählt sie stolz.

Anthony und Gabrijel blättern in den Pons-Bildwörterbuchern (Foto: DW/Anna Brockdorff)
Die beiden Jungs wollen später einmal Abitur machenBild: DW/A. Brockdorff

Auch Anthony und Gabrijel haben große Pläne. Sie möchten später einmal Abitur machen. Und Anthony hat auch schon einige Ideen, was er dann studieren könnte: Physik oder Medizin. "Ich möchte mal einen guten Job haben", sagt er und fügt hinzu: "Und ein gutes Leben."