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Moderne Odyssee

Andrea Kasiske22. August 2014

Was kann Homers "Odyssee" mit den heutigen Europäern wohl noch gemein haben? Dieser Frage gehen Theaterschaffende aus Europa bei einer Theater-Schiffsreise vom Baltikum bis zum Mittelmeer nach.

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Projekt Odyssee Theaterschiff in St. Petersburg EINSCHRÄNKUNG
Bild: Theaterprojekt "Meeting the Odyssee"

"Vor fünf Monaten stand alles noch auf der Kippe", sagt Projektleiterin Matilda Sundström. Da hätten sie entscheiden müssen, ob sie nach St. Petersburg fahren, wo ihr Projekt "Meeting the Odyssee" starten sollte. Eine Theaterschiffsreise, drei Sommer lang, quer durch elf europäische Länder. An Bord über hundert wechselnde Teilnehmer sowie Theaterschaffende aus Italien, Frankreich, Polen, Dänemark und Finnland. Ein Megaprojekt, gefördert durch die EU. Vor fünf Monaten, im April, da war der Ukrianekonflikt in in aller Munde, Boykottaufrufe gegen Russland auch. Doch die Veranstalter - Regisseure aus Italien, Finnland, Dänemark und Russland - sagte sich: "Jetzt erst recht!"

Als der 100 Jahre alte, große Zweimaster mit der estnischen und der europäischen Flagge Mitte Mai dann in die ehemalige Zarenstadt einfahren durfte, war das für alle Beteiligten überwältigend. Und ein Sieg über die russische Bürokratie: Jeder einzelne Gegenstand auf dem Boot musste vorher aufgelistet und fotografiert werden. "Wir kommen aus freiheitlichen Ländern, und das hat uns noch mal die Augen geöffnet, wie kompliziert die Dinge anderswo sind", sagt der italienische Regisseur Michele Losi.

Theaterprojekt Meeting the Odyssee
Mittendrin im Alltag: Die Schauspieler performen in der Metro in PragBild: Li Zhuyun

Nicht nackt sein und nicht auf der Bühne fluchen

Natürlich habe man auch die russische Zensur von Anfang an im Kopf gehabt. Nicht auf der Bühne fluchen, nicht nackt sein, Anspielungen auf Homosexualität und Religion vermeiden - das war allen Schauspielern von vorneherein klar. Trotz der Beschränkungen hat die erste Aufführung "Memories of life" einen Nerv getroffen, hat Publikum und Schauspieler ins Gespräch gebracht. Angelehnt an die "Odyssee" geht es darin ums Älterwerden, um das Verhältnis von Geschichte und persönlichen Erinnerungen. "So viel Interesse, so einen Mix an Zuschauern aus der Ex-Sowjetunion haben wir nicht erwartet", sagt Michele Losi.

"Meeting the Odyssee" ist nicht nur eine Theaterreise mit insgesamt vier Aufführungen rund um das Epos von Homer, sondern eine (Sinn-)Suche: Welche Bedeutung kann dieses antike Werk für den Alltag der heutigen Europäer noch haben? Wie sieht deren "persönliche" Odyssee aus? Diese Fragen stehen im Fokus der begleitenden Theaterworkshops. Die dänische Teilnehmerin Sonja Kjaer arbeitet als Übersetzerin für Migranten.

Sonja hat wenig Theatererfahrung, ebenso wenig wie die Videomacherin Charlotte Andreasen, die ebenfalls am Theaterexperiment teilnimmt. Dass die Ergebnisse des Workshops öffentlich aufgeführt werden, macht beide etwas nervös. Doch stärker als das Lampenfieber sind die wichtigen Erfahrungen an Bord des Schiffes: Im Kontakt mit den Schauspielern und der Schiffscrew auf dem Weg nach Helsingör, da sei etwas Neues entstanden, sagen beide.

Projekt Odyssee Theaterschiff in St. Petersburg EINSCHRÄNKUNG
Gute Stimmung vor und während der AufführungenBild: DW

Kein Koller trotz Enge und Sprachenwirrwar

"Hier sind alle Probleme Europas im Kleinen", meint Toomas Ojasu, der immer gut gelaunte, estnische Vizekapitän auf der "Hoppet". Er liebt das Schiff und achtet genauestens darauf, dass keiner der 23 Leute an Bord irgendwo auf eigenen Faust rumturnt. Die Enge, der Sprachenmix, das sei schon eine "persönliche Odyssee", meinen er und alle, die länger dabei sind. Trotzdem will niemand das Schiff verlassen. "Wir sind ganz schnell zu einer großen Familie geworden", sagt Projektleiterin Matilda Sundström. Dass die Teilnehmer es vorziehen, in den engen Kojen als anderswo zu schlafen, erstaune sie immer noch. Probleme gibt es natürlich auch. Gerade ist ein Schauspieler ausgefallen und musste kurzfristig ersetzt werden.

Improvisieren mussten alle lernen, auch die polnischen und griechischen Schauspieler, die in Helsingör das Stück "Waiting for the rain" aufführten. Nach der Premiere im polnischen Opole und Auftritten in Berlin und Prag, lief in Dänemark nichts so, wie es sein sollte. Ein neuer Schauspieler, eine Industriehalle ohne Bühne und Tanzboden, dafür viel zu viel Licht. Trotzdem war das Stück ein Erfolg, beeindruckend umgesetzt mit Live-Musik und lebensgroßen Puppen. Die Geschichte von Penelope, Odysseus` Frau, die jahrelang auf ihn wartet, ist auch eine Metapher auf das heutige Polen.

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Während der Performance "Waiting for the rain"Bild: DW

Eine ganze Generation wartet auf die Zukunft

"Es gibt so viele Menschen, die warten in Polen", erzählt die Hauptdarstellerin Aleksandra Adamksa vom Opolski Teatr in Opole. Frauen würden auf ihre im Ausland arbeitenden Männer warten, Kinder auf die abwesenden Eltern, und eine ganze Generation von jungen Leuten warte auf die Zukunft. Das sei besonders traurig, sagt sie. Im September ist die Theaterreise erst mal vorbei. Nächstes Jahr tourt "Meeting the Odyssee" durch Frankreich und Italien – mit neuem Programm und mit vielen neuen Begegnungen und Erfahrungen.