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Behinderten-Boccia

Fabian Vögtle30. April 2013

Spitzensport mit nur wenigen funktionierenden Muskeln. Die paralympischen Boccia-Spieler zeigen, dass das geht und träumen von Rio 2016. Ein Besuch im Bundesleistungszentrum Boccia in Bad Kreuznach.

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Thomas Franz beim Lehrgang der Behinderten-Boccia-Nationalmannschaft in Bad Kreuznach (Foto: DW/F. Vögtle)
Thomas Franz beim Lehrgang der Behinderten-Boccia-Nationalmannschaft in Bad Kreuznach (Foto: DW/F. Vögtle)Bild: DW/F. Vögtle

Draußen liegt Schnee, drinnen rollen kleine Lederbälle durch die Sporthalle in Bad Kreuznach. Manuel Wolfsteiner fixiert hoch konzentriert den Jackball, dem er mit seinen eigenen Kugeln so nahe wie möglich kommen will. Der 22-Jährige aus München hat auf den Rädern seines Rollstuhls das Wappen von 1860 München kleben. Als Fußballfan, der seit seiner Geburt Cerebralparetiker (Bewegungsstörung als Folge einer Hirnschädigung) ist und ohne Rollstuhl nur ein paar Schritte gehen kann, wollte er zunächst Sitzfußball spielen. Doch beim Boccia hat er mehr Möglichkeiten, seine Fähigkeiten umzusetzen. Seit vier Jahren ist er nun dabei. "Im Keller haben wir just for fun gespielt. Danach wurde Ernst daraus", erinnert sich der motivierte Sportler an die ersten Boccia-Erfahrungen und wie ihn seine Physiotherapeutin von der Sportart überzeugte. Dorota Berger, die das Nationalteam begleitet, hat auch andere zum Boccia-Sport gebracht.

"Boccia ist eine Mischung aus Taktik, Ballgefühl und Spaß."

Thomas Franz zum Beispiel. Der 39-Jährige ist für drei Tage zum Nationalmannschaftslehrgang in die Pfalz gekommen. Er gehört zu den wenigen Behindertensportlern im Boccia, die nicht von Geburt an im Rollstuhl sitzen. 2008 stürzte er im Urlaub die Treppe hinunter. Seitdem ist der Münchner querschnittsgelähmt. Nur den Kopfbereich sowie einen Teil des rechten Arms kann er bewegen. Schon vor seinem Unfall war er sportlich sehr aktiv - überquerte kurz vorher die Alpen mit dem Mountainbike. Nun hat er sein sportliches Glück im Boccia gefunden. Der Sportart also, die von der Spielidee dem französischen Boule ähnelt und vielen eher vom Strandurlaub mit bunten Kugeln bekannt ist. Aber die Lieblingssportart des ehemaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer ist heute eine anerkannte paralympische Sportart, die in der Halle betrieben wird.

"Boccia ist eine Mischung aus Taktik, Ballgefühl und Spaß und es ist kognitiv fordernd", findet der als Aktivensprecher fungierende Franz, der sich im Vergleich zu vielen seiner sportlich von den Paralympics träumenden Teamkollegen eher als ambitionierter Hobbysportler sieht. Dennoch ist er so etwas wie ein heimlicher Nationalmannschaftskapitän. Franz, für den es "nicht nach oben reichen" wird, weil viele seiner Mitstreiter Arme und Finger ganz normal bewegen können, sieht seine Aufgaben selbst als "Supporter" des Teams. Er setzt sich für seine Kollegen ein, finanziell wie mental. "Unser Sport kann eine wahnsinnige Botschaft sein", weiß er und versucht überall Werbung zu machen.

Boccia-Bundestrainer Jürgen Erdmann-Feix schaut genau, wie der Ball von der Rampe aufs Spielfeld rollt (Foto: DW/F. Vögtle)
Boccia-Bundestrainer Jürgen Erdmann-Feix schaut genau, wie einer der Rampenspieler den Ball freigibtBild: DW/F. Vögtle

Die Nationalspieler kommen aus München, Markgröningen, Mannheim und Bad Kreuznach. Mit ihren Familien und Freunden, die gleichzeitig deren sportliche Assistenten sind, ohne die der Sport nicht denkbar wäre, fahren sie privat zu Wettkämpfen und Trainingslehrgängen. "Ich fände es schön wenn es etwas verstreuter wäre", beschreibt Bundestrainer Jürgen Erdmann-Feix die Konzentration seines Nationalteams auf einige wenige Vereine. Doch noch stecke man im Vergleich zu anderen paralympischen Boccia-Nationen wie etwa Portugal in den "Kinderschuhen". In Bad Kreuznach, unweit von Kurpark und Weinreben, ist das Zentrum des nationalen Boccia-Sports. Seit 2011 befinden sich dort Bundesleistungszentrum und Paralym­pi­scher Trainingsstütz­punkt Boccia des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS).

Nur wenige Sportarten für Schwerbehinderte

Erdmann-Feix, der in Bad Kreuznach wohnt und dort die erfolgreichen Diakonie Sportfreunde betreut, hat dazu maßgeblich beigetragen. 2004 organisierte er die ersten Deutschen Meisterschaften und in den vergangenen Jahren baute er die Nationalmannschaft auf. Bereits bei den Paralympics 1992 in Barcelona wurde er auf Behinderten-Boccia aufmerksam. Damals war der Bundestrainer in gleicher Rolle mit der Rollstuhltischtennis-Auswahl in Spanien dabei, entdeckte Boccia und fragte sich: "Warum hat Deutschland keine Bocciaspieler?" Nun, 20 Jahre später, gehört Boccia auch hierzulande zu den anerkanntesten Sportarten für Menschen mit Behinderung.

Das macht selbst den so bescheidenen Pfälzer ein wenig stolz. Er sieht die Vorteile seiner Sportart darin, dass Frauen und Männer genauso zusammen spielen wie Jung und Alt. "Es gibt Leute im Team, die haben erst mit 50 Jahren angefangen und holen jetzt nach was sie ein ganzes Leben lang nicht konnten", berichtet er von den Erfolgserlebnissen der Schwerbehinderten. Denn "wer ein Sport-Faible hat, ist froh, dass es einen Sport gibt, den er machen kann", erklärt Erdmann-Feix. Zwar sei Behindertensport kein Phänomen der letzten Jahre. Aber gerade Sportarten für Schwerbehinderte und Menschen mit Cerebralparese haben in Deutschland keine große Tradition. Diese Lücke schließt unter anderem das Boccia.

Petra Benharkat und andere Rampenspieler beim Training (Foto: DW/F. Vögtle)
Petra Benharkat und andere Rampenspieler beim TrainingBild: DW/F. Vögtle

Dennoch hört er immer auch kritische Fragen: "Ist das wirklich ein ernstzunehmender Sport?" Erdmann-Feix erzählt dann von der Bedeutung des Sports für die schwerbehinderten Menschen und der großen Kraftanstrengung und Konzentration, die beim Boccia nötig sind. Viele der Sportler kommen so stark ins Schwitzen, wie in ihrem Alltag sonst nie. So auch Petra Benharkat. Die 51-Jährige spielte von 1995 bis 2002 Elektro-Rollstuhl-Hockey. Da sie den Kopf wegen ihrer angeborenen Muskelkrankheit immer weniger gut drehen konnte, stieg sie 2007 auf Behinderten-Boccia um und gehört zu den sogenannten Rampenspielern, von denen es im Nationalteam vier gibt. Sie können nur ganz wenige Muskelpartien ihres Körpers bewegen und werfen den Ball nicht mit den Händen wie ihre Teamkollegen, sondern setzen den Lederball über eine vom Assistenten aufgestellte Rampe oder Abrollschiene durch Hilfe eines Stabs mit ihrem Kopf, Kinn oder sogar mit der Zunge in Bewegung.

Der Traum von Rio 2016 rückt näher

Petra Benharkat ist gelernte Bürokauffrau, die ganztags arbeitet. An ihrer neuen Sportart gefällt ihr vor allem das "logische Denken". "Gerade das Taktische reizt mich sehr", sagt sie begeistert. Boccia ist für sie als Berufstätige ziemlich zeitaufwendig. Doch die zweifache deutsche Meisterin, die für ihren Sport lebt und mit viel Spaß dabei ist, hat wie andere Teamkollegen auch, große Träume. "Ich möchte auf jeden Fall nach Rio", sagt sie und düst zur Vorbereitung mit ihrem Rolli zur nächsten Übung. Das große Ziel ist für die besten im Team die Teilnahme bei den Paralympics 2016, aber zunächst steht dieses Jahr im Juni erstmal die Europameisterschaft in Portugal an.

Manuel Wolfsteiner konzentriert beim Wurf (Foto: DW/F. Vögtle)
Manuel Wolfsteiner konzentriert beim WurfBild: DW/F. Vögtle

"Alle die Vorrunde überstehen", gibt Talent Manuel Wolfsteiner als Minimalziel für die EM aus. Der deutsche Meister von 2012 dachte nie, dass er mal Nationalspieler wird. „Den Adler am Herzen tragen. Das ist jedes Mal Gänsehaut pur“, freut er sich schon jetzt auf die EM in Portugal und wenn er dort gute Leistungen zeigt, rückt auch der Traum von einer Teilnahme an den Paralympics in Brasilien 2016 näher.