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Politik

Mit Corona kehrt der Staat zurück

1. April 2020

Die Coronakrise hat unseren Alltag zerstört, Demokratie und Marktwirtschaft suspendiert. Die Menschen verlassen sich viel mehr auf den Staat, auf Experten und "Mainstream-Medien", behauptet der Politologe Ivan Krastev.

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Ivan Krastev
Bild: IWM/Klaus Ranger & Zsolt Marton

DW: "Sieben Schlüsse aus der Coronavirus-Krise" - so ist Ihr Artikel in der Wochenzeitung "Die Zeit" betitelt. Welches sind die wichtigsten Schlüsse?

Ivan Krastev: In erster Linie hat diese Krise nicht bloß diffuse Sorgen und Verunsicherungen, sondern eine ganz konkrete Angst ausgelöst. Im Unterschied zu der Verunsicherung hat die Angst immer ein klares Objekt. Die Menschen wissen, was ihnen Angst macht: die Gefahr zu erkranken und zu sterben. Und das ist eine ganz neue Dimension im Vergleich zu den Sorgen, Verunsicherungen und Ungemütlichkeiten, die sie bis vor kurzen empfunden haben - in einer Welt, die sie nicht mehr verstanden. Die Angst ist ein viel mächtigeres Gefühl, das die Menschen stark mobilisiert und sie dazu bringt, ihre Lebensroutine total zu ändern.

Und so gewinnt der Staat das Vertrauen der Menschen wieder, schreiben Sie.

Ja, das ist einer der sieben Schlüsse: der Staat kehrt zurück. Nach der Finanzkrise haben mehrere linke Beobachter vermutet, dass der Staat zurückkehren würde - genau wie nach der großen Depression Ende der 1920er Jahre. Sie haben sich dabei einen sozialen, einen Umverteilungsstaat vorgestellt. Die heutige Rückkehr des Staates ist aber eine ganz andere: das geschieht durch eine Politik der Angst. Und die Menschen tolerieren die Einschränkung ihrer eigenen Rechte, ja, sie sind dem Staat sogar dankbar dafür. Weil sie plötzlich festgestellt haben, dass die größte Gefahr von ihrem nächsten Mitmenschen ausgeht. Dadurch entsteht ein seltsamer Effekt: die soziale Distanzierung, die Selbstisolierung, das Nicht-Kommunizieren entwickeln sich zu einer Form der Solidarität. Indem du die Mitmenschen nicht triffst und sie nicht berührst, hilfst du ihnen. Es wird oft behauptet, wir hätten es mit einer Krise der individualistischen Gesellschaften zu tun. Die Reaktion auf diese Krise ist aber ein Verhalten, das viel individualistischer ist.

Und noch ein Paradox findet sich in Ihren "sieben Schlüssen": die Pandemie ist global, die Maßnahmen dagegen aber sind nationalstaatlich geprägt. Die Grenzen sind geschlossen, der Staat kommt mit aller Wucht zurück…

Das Coronavirus kennt keine Grenzen, nichtsdestotrotz sind sich aber die Nationalstaaten, unabhängig von ihren unterschiedlichen Traditionen und politischen Systemen, in einem einig: die Grenzen werden geschlossen. Zurzeit haben weder die Regierungen, noch die Menschen eine klare Vorstellung darüber, was geschieht und was auf uns zukommt. Deswegen ist es für die Regierungen am wichtigsten, das Gefühl zu erzeugen, alles sei unter Kontrolle. Und die Grenzschließungen sind ein Mittel dazu. Denn auf eine geradezu mystische Art und Weise erzeugen sie in den Menschen die Überzeugung, dass sich die Regierung um sie kümmert und dass dies der Weg zur Lösung des Problems sei. So geraten wir in eine Situation, in der die EU praktisch suspendiert ist. Die Grenzen sind nicht nur für Menschen, Waren und Dienstleistungen zu, sie sind auch für Werte, Regeln und Normen geschlossen. Suspendiert ist auch die Demokratie.  Überall gibt es praktisch keine Opposition mehr, "die Strasse" ist auch verschwunden, Wahlen werden verschoben oder finden unter außergewöhnlichen Umständen statt. Selbst der Kapitalismus ist in gewissem Sinne suspendiert. Der Staat greift mächtig in die marktwirtschaftlichen Mechanismen ein und wird dabei paradoxerweise auch von vielen Kapitalisten und Großunternehmern unterstützt. Es ist das wohl größte politische Experiment zu unseren Lebzeiten. Wir leben mittlerweile in einem ganz anderen politischen und sozialen Modus im Vergleich zu unserem früheren Leben, das wir als "normal" empfunden haben. Daraus ergibt sich die für mich wohl wichtigste Frage: Wird uns diese Krise gegen gewisse autoritäre Praktiken immun machen oder eher umgekehrt, wird sie diese Praktiken für alle akzeptabler machen?

Sie haben noch einen wichtigen Schluss formuliert: die Rückkehr des Experten. Denn "der Experte" war bis vor kurzen vor allem von den Populisten ignoriert, ja verpönt.

Genau. Nach der Finanzkrise 2008-2009 haben viele lauthals verkündet, dass Experten nichts verstehen, dass wir sie nicht brauchen. Heute aber ist unser Leben in Gefahr und die Menschen suchen nicht bloß Information, sondern zuverlässige Information. Sie suchen die medizinische Expertise der Fachleute, die zum Beispiel ihr Leben lang über Viren geforscht haben. Sie suchen aber vermehrt auch die Information der sogenannten "Mainstream-Medien". Wenn dein Leben in Gefahr ist, wird das bloß Interessante unwichtig und die Wahrheit wichtig. Die Fachleute werden heute umso mehr geschätzt, weil sie teilweise das größte Risiko eingehen. Sie können sich nicht selbst isolieren, sie riskieren ihr Leben, um anderen zu helfen. Die Rückkehr des Staates und die Rückkehr des Experten sind eng miteinander verbunden. Denn gerade der Staat hat quasi ein Monopol über die Experten, der Staat "sagt", wer ein Experte ist.

Noch eine besonders schmerzhafte Schlussfolgerung: in der heutigen Krise muss anscheinend die Wahl getroffen werden zwischen der Rettung Hunderttausender Menschenleben und der Rettung der Wirtschaft. Können sie überhaupt gegeneinander abgewogen werden?

Diese Diskussion verläuft ganz unterschiedlich, in unterschiedliche Himmelsrichtungen - vor allem wegen der unterschiedlichen demographischen und ökonomischen Gegebenheiten. Nehmen wir das Beispiel, das ein Ökonom aus Südafrika neulich präsentierte: In einem nach westlichen Standards sehr armen Land wie Südafrika mit nur 6% der Bevölkerung über 60 Jahre werde ein Shutdown der Wirtschaft viel mehr Menschen töten als die Pandemie, die man unter diesen Umständen wohl ignorieren sollte. Ich weiß nicht, ob das stimmt, was ich aber mit Sicherheit weiß, ist, dass diese Krise dauernd ihren Charakter ändert. Als gesundheitliche Krise angefangen, wird sie immer mehr zu einer Wirtschaftskrise. Und immer mehr Menschen werden hellwach darüber, wie lange die Einschränkungen dauern und wie sie ihr Leben beeinflussen werden: ob sie in der Zukunft noch Arbeit und Jobs haben werden.

Immer öfter hören wir die Aussage: Die Welt danach wird eine ganz andere sein. Wie stellen Sie sich diese "andere Welt" vor?

Diese Aussage wurde mindestens dreimal im 21. Jahrhundert bemüht: nach 9/11, nach der Finanz- und nach der Flüchtlingskrise. Heute aber passt sie, denke ich. Unsere bisherige Welt ist jetzt schon dahin. Sie hatte ein wichtiges Merkmal: wir konnten uns keine andere Welt vorstellen. Und plötzlich, innerhalb von wenigen Wochen, leben wir in einer vollkommen anderen Welt! Es ist eine Welt der geschlossenen Grenzen, der leeren Straßen, der stillstehenden Flugzeuge, der verschobenen Wahlen… Eingekerkert in unserem Alltag konnten wir uns das bis vor kurzem gar nicht vorstellen. Diese Krise ist deswegen so radikal, weil sie eben unseren Alltag zerstört hat. Und in diesem Sinne wird sie der Menschheit helfen, endlich in die Zukunft zu blicken. Denn bis vor kurzem gab es, vor allem in Europa, eine mächtige Nostalgiewelle: die Menschen sehnten sich nach der Vergangenheit und dachten gar nicht an die Zukunft. Und diese Einstellung hat sich radikal geändert. Die heutige Krise zwingt uns in Europa, in die Zukunft zu gucken und uns Fragen zu stellen, die wir bisher gar nicht zu stellen gewagt haben.

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev ist Leiter des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Die deutsche Übersetzung seines neuen Buchs "Das Licht, das erlosch - Eine Abrechnung" , das er zusammen mit Stephen Holmes geschrieben hat, wurde 2019 im Ullstein-Verlag veröffentlicht.