1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Es lohnt sich nicht mehr zu bleiben"

Diego Cupolo/js5. September 2016

Nach einem Jahr militärischer Einsätze im Südosten der Türkei kündigt Ministerpräsident Yildirim nun ein Förderpaket in Milliardenhöhe an. Die Bewohner der Konfliktregion sind skeptisch. Diego Cupolo aus Diyarbakir.

https://p.dw.com/p/1Jw8U
Ein Mann läuft durch die Trümmer in Diyarbakir im Südosten der Türkei. Foto: Diego Cupolo
Bild: DW/D. Cupolo

Monatelang gab es rund um die Uhr Ausgangssperren und Militäreinsätze, um kurdische Kämpfer aus dem Südosten der Türkei zu vertreiben. Jetzt sind die einst lebendigen Stadtzentren in der Region kahl, die Straßen gezeichnet von Einschusslöchern, Trümmern und gelben Schildern mit der Aufschrift "zu vermieten". Diese Schilder wurden die an die Schaufenster der geschlossenen Geschäfte geklebt.

Im Sommer letzten Jahres brach die zweijährige Waffenruhe zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei PKK und dem türkischen Staat zusammen. Seitdem eskalieren die Kämpfe in der Region wieder. Die Folgen: Hunderte Tote und schwere Schäden in Städten wie Diyarbakir, Cizre und Nusaybin.

Während gezielte Bombardierungen auf Stellungen der Polizei andauern und viele andere Regionen für die Öffentlichkeit gesperrt bleiben, haben die weitverbreiteten Häuserkämpfe nachgelassen.

Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim nutzte diese Ruhepause, um bei einem Besuch in Diyarbakir ein Förderpaket von 3 Milliarden Euro anzukündigen für den Wiederaufbau der Städte, die am meisten unter den Kämpfen gelitten haben. "Anstelle von zerstörten Häusern durch die PKK bauen wir schöne Häuser", sagte Yildirim. Die Regierung wolle 67.000 Häuser in 23 Städten der Region wiederaufbauen. Außerdem sollen neue Fabriken, Krankenhäuser, Sportstadien und 51 Polizei- und Militärstationen entstehen.

Zwei Kinder stehen vor einer Mauer im Bezirk Sur der Stadt Diyarbakir. Foto: Diego Cupolo
Viele Teile von Sur sind immer noch schwer beschädigt und für die Öffentlichkeit gesperrtBild: DW/D. Cupolo

In Diyarbakirs historischem Stadtbezirk Sur, einer UNESCO-Welterbestätte, die schwer beschädigt wurde, begrüßen die Inhaber lokaler Geschäfte die Investitionen des Staates - äußern aber Zweifel daran, ob eine wirtschaftliche Erholung inmitten von andauernden Kämpfen wirklich möglich ist. Währenddessen befürchten die Bewohner, dass der Wiederaufbau in Sur Massenvertreibungen zur Folge hat.

"Zählen die Tage"

Murat Beyaz ist seit 2003 Besitzer eines Elektronikladens in Sur. Er erzählt, dass er sein Geschäft für mehr als drei Monate schließen musste. Seit der Wiedereröffnung im Sommer habe er Schwierigkeiten, die Miete zusammenzubekommen.

Der Fußgängerverkehr habe wegen der Polizeikontrollen, die das Stadtviertel umgeben, nachgelassen, sagt Murat. Alle, die das Viertel betreten, würden durchsucht. "Früher sind die Leute zuerst hierhin gekommen, wenn sie etwas brauchten, weil wir die besten Preise haben", erzählt Beyaz. "Jetzt gehen sie in andere Teile der Stadt und kommen nur hierher, wenn sie das, was sie suchen, woanders nicht bekommen."

Beyaz rechnet damit, dass das Geschäft nach dem Wiederaufbau wieder besser läuft. Aber zurzeit ist er von leeren Läden umgeben und überlegt, sein Geschäft zu verkaufen, weil er es nicht mehr viel länger halten kann. "Wir zählen die Tage. Es lohnt sich nicht mehr zu bleiben", sagt Beyaz der DW.

Nur eine Straße weiter denkt Bilal Erdin genauso. Er verkauft Kohle in einem Familiengeschäft in der dritten Generation. Jetzt würde er das Geschäft ohne zu zögern verkaufen, sagt Erdin, dessen Vater die Nachbarschaft auch verlassen will. "Man kann sich nicht vorstellen, wie schwer es war."

Ein rußverschmierter Mann steht zwischen geschlossenen Geschäften in Diyarbakir im Südosten der Türkei. Foto: Diego Cupolo
Ladenbesitzer wie Erdin sagen, dass sie ihr Geschäft vielleicht verkaufen müssen, um finanziell über die Runden zu kommenBild: DW/D. Cupolo

Angst vor Gentrifizierung

Als Schießereien in Sur an der Tagesordnung waren und türkische Panzer historische Bauwerke zerstörten, die von kurdischen Kämpfern als Versteck genutzt wurden, besänftigte der damalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu Kritiker. Er sagte, dass die besondere Architektur des Viertels nach den Kämpfen restauriert würde, um mit Touristenzielen wie Toledo in Spanien zu konkurrieren.

Bei dem jetzigen Ministerpräsident Yildirim heißt es nun, dass der Wiederaufbau neuen Richtlinien folgen würde, um den historischen Charakter des Bezirks zu erhalten. Darunter falle auch ein Verbot von Gebäuden, die höher als zwei Stockwerke sind.

In Sur, einem Stadtbezirk mit rund 120.000 Einwohnern, ist das ein Grund zur Sorge. Unzählige mehrstöckige Wohnhäuser prägen dort die Skyline. Alteingesessene glauben nun, dass sie wegen der Verkleinerung der Gebäude und der Zerstörung in dem Bezirk nicht mehr länger leben werden.

Den Einwohnern, die ihr Zuhause durch die Kämpfe verloren haben, wurden subventionierte Wohnungen in Hochhäusern außerhalb des Zentrums angeboten. Aber Seher Yasar, eine 20-jährige Bewohnerin des Viertels, sagt, dass ihre Familie nicht umziehen wird. "Ihr Ziel ist es, die Bezirke aufzuteilen, in denen es die größte Solidarität gegenüber den Kurden gibt – wie hier und in Cizre", sagt Yasar. "Auch wenn alles wiederaufgebaut ist, werden sie die Leute in diesem Bezirk nicht in den neuen Gebäuden wohnen lassen und sie Gemeinschaften entwickeln lassen, wie wir sie früher hatten."

In ihrer alten Nachbarschaft, die in dem Teil von Sur liegt, der immer noch für die Öffentlichkeit gesperrt ist, habe niemand hungern müsse, erzählt Yasar. "Wenn jemand seinen Job verloren hat, haben wir ihn versorgt", sagt sie der DW. "Als wir dann Hilfe brauchten, waren sie für uns da. Das ist es, was wir verlieren. Es geht nicht nur um die Häuser."

Warten auf den Frieden

Yildirims Plan für den Wiederaufbau ist nicht der erste Versuch der Regierung, die Unruhen im Südosten der Türkei mit einer Geldspritze zu unterdrücken.

Die Region war historisch schon immer rückständig im Vergleich zur westlichen Türkei. Seit langer Zeit ist sie ein Schauplatz des Konfliktes zwischen den 15 Millionen Kurden und dem Staat, der die Ethnie jahrzehntelang nicht anerkannt und die kurdische Sprache verboten hat.

Laut Kadir Karagoz, dem Besitzer einer Kunstgalerie in Sur, sind es die anhaltenden ethnischen Spannungen, die die wirtschaftliche Entwicklung in der Region verlangsamen. Karagoz hat keine Zweifel daran, dass Sur wieder ein Touristenziel werden kann. Die Kämpfe müssten aber erst beendet werden, bevor es echten Fortschritt geben könnte.