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Migranten in der Türkei gehen auf Distanz zu Erdogan

Senada Sokollu 19. Juni 2013

Einwanderer aus Balkanstaaten gehören traditionell zu den Anhängern Erdogans in der Türkei. Doch nach der gewaltsamen Räumung des Gezi-Parks gilt das für viele nicht mehr. Auch andere Migranten distanzieren sich.

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Demonstranten in der Türkei beim stummen Protest (Foto: Kyodo)
Bild: picture alliance/dpa

Es war eine Antwort auf die Proteste gegen seine Regierung: die Rede Recep Tayyip Erdogans am 16. Juni 2013. In Istanbul sprach der türkische Premierminister vor Hunderttausenden seiner Anhänger - einen Tag nach der gewaltsamen Stürmung des Gezi-Parks durch die Polizei, die bei der Aktion massiv auf Tränengas und Wasserwerfer zurückgegriffen hatte.

"Ihr sollt so laut schreien, dass Sarajevo und Zenica euch hören", rief Erdogan seinen Zuhörern zu. Auch an die Menschen in Mazedonien und Kosovo entsandte er Grüße. Viele Türken mit Wurzeln in der Balkanregion gehören seit langem zu den treuen Wählern der konservativen AKP-Partei von Recep Tayyip Erdogan. Vor allem durch sein politisches und wirtschaftliches Engagement in der Region hat er in der Vergangenheit ihre Stimmen gewonnen. So auch die von Esat Günay, dessen Vorfahren vor mehr als 50 Jahren aus Bosnien in die Türkei ausgewandert sind: "Der Balkan ist sehr wichtig für uns. Sind die Menschen dort zufrieden, sind wir auch zufrieden. Uns macht es glücklich, dass Erdogan den Balkan mit einbezieht", sagt er.

Türkische NGOs in Mazedonien unterstützen Erdogan

In der mazedonischen Stadt Gostivar, die der türkische Premier in der Vergangenheit schon zweimal besucht hat, hatten Angehörige der türkischen Minderheit zwei Tage vor der Rede in der türkischen Hauptstadt eine Veranstaltung zur Unterstützung Erdogans organisiert - unter dem Motto: "Erdogan, beuge Dich nicht, der Balkan ist auf Deiner Seite!" Beteiligt waren auch Vertreter der türkischen Minderheiten aus den Nachbarländern.

Die Teilnehmer betonten, dass die Proteste in der Türkei "von den Provokateuren verursacht wurden, die die Macht in der Türkischen Republik zu Fall bringen wollen". Der Dachverband der türkischen NGOs in Mazedonien hatte zuvor eine Pressemitteilung veröffentlicht, die die Protestierenden als Angehörige von Gruppen darstellt, "die gegen den Wohlstand der muslimischen Gemeinschaft sind" und "die Stabilität der Türkischen Republik schädigen" wollten.

Kritik von Bosniaken und Griechen in Istanbul

Doch nicht alle sind einverstanden mit dem Einfluss der Türkei auf den Balkan. Die Unterstützung türkischer Unternehmen in Bosnien, Turkmenistan und in den arabischen Ländern habe vor allem politische Gründe, meint der 32-Jährige Bosniake Erdogan Erden. "Sie arbeiten mit der islamischen Gemeinschaft zusammen, kaufen sie, um sie dann eines Tages benutzen zu können." Das tue die Türkei vor allem in Bosnien: "Sie täuschen die armen Menschen mit Hilfe der Religion."

Porträt des Bosniaken Erdogan Erden in Istanbul (Foto: DW/Sokollu)
Erdogan ErdenBild: DW/S. Sokollu

Auch die 30-Jährige Gamze Gencebay hat ihre Wurzeln auf dem Balkan. Ihre Eltern stammen aus dem Sandschak, eine Region Südserbiens, in der überwiegend Muslime leben. Sie betreibt einen bosnischen Spezialitätenladen im Istanbuler Stadtteil Pendik, in dem besonders viele Bosniaken wohnen. Die junge Frau hat Angst vor der Spaltung der türkischen Gesellschaft durch die aktuelle Protestwelle. Den Bosniaken hätte Erdogan zwar immer das Gefühl gegeben, zur Gesellschaft zu gehören. Doch im Umgang mit den Demonstrationen habe er "genau das Gegenteil gemacht", beklagt sie: nämlich Intoleranz bewiesen.

Auch der Bosniake Enver Demir, Vorsitzender eines Balkan-Sportclubs in Istanbul, kritisiert den Regierungsstil Erdogans. Seine Eltern sind 1958 aus dem Sandschak nach Istanbul ausgewandert. Die Versuche des Premiers, die Menschen aus dem Balkan auf seine politische Seite zu ziehen, hält er für aussichtslos: "Wir wollen nicht, dass sich Religion und Politik in einer Regierung vermischen. Glauben ist für die Menschen gedacht und nicht für die Politik. Durch die Religion wollen sie die Menschen auf ihre Seite ziehen. Die meisten von uns unterstützen das nicht.“

Porträt von Enver Demir, Vorsitzender eines Balkan-Sportclubs in Istanbul (Foto: DW/Sokollu)
Enver DemirBild: DW/S. Sokollu

In Istanbul leben auch über 3000 Griechen: die sogenannten "Rum", griechisch-orthodoxe Christen mit türkischer Staatsangehörigkeit, und die sogenannten "Neopolites", die erst in den letzten Jahren in die Türkei gezogen sind - Studenten, Führungskräfte multinationaler Firmen und Unternehmer. Bis vor Kurzem standen die meisten Griechen auf der Seite Erdogans - unter anderem, weil er 2007 durch eine Reihe politischer Entscheidungen den Weg geebnet hat für die Rückgabe griechischer Lehranstalten, die der türkische Staat in der Vergangenheit unrechtmäßig entwendet hatte. Doch die aktuellen Entwicklungen haben die Griechen in Istanbul gespalten: Die Konservativen hielten Abstand zu den Protesten, viele Jüngere distanzierten sich von Erdogan und nahmen aber an den Demonstrationen im Gezi-Park teil.

Solidarität im Nachbarland

Auch im Nachbarland Bulgarien gab es Versuche, sich solidarisch mit den Protesten in Istanbul zu zeigen: Junge Türken, die in Sofia studieren, wollten vor der türkischen Botschaft protestieren, wurden aber von der bulgarischen Polizei auseinandergetrieben. Die Begründung: Der Protest sei nicht genehmigt gewesen. Das bulgarische Außenministerium rief indes seine Bürger in der Türkei auf, sich nicht an den Demonstrationen zu beteiligen.