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"Michael" - ein Missbrauchsdrama

27. Januar 2012

Ein Kind wird entführt, gefangen gehalten und missbraucht: Der Filmemacher Markus Schleinzer erzählt diese Geschichte aus der Sichtweise des Täters und arbeitet reale Fälle auf. Ein Debütfilm und eine Herausforderung.

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Gefangenschaft inklusive gelegentlicher Ausflüge: Aber Michael (Michael Fuith) hält dabei immer die Hand auf der Schulter des Jungen (David Rauchenberger) Copyright: NGF
Film "Michael" von Markus SchleinzerBild: NGF

2006 entkommt ein Mädchen in Wien ihrem Entführer - nach acht Jahren Gefangenschaft: Natascha Kampusch. 2008 wird bekannt, dass der Österreicher Joseph Fritzl in Amstetten seine Tochter 24 Jahre lang in einer Kellerwohnung gefangen hielt und sieben Kinder mit ihr zeugte. Tausende Journalisten mühten sich weltweit diese Fälle zu schildern. Wirklich erklären konnten sie sie nicht. Zu unfassbar war, dass Nachbarn, Behörden und Bekannte in beiden Fällen nichts bemerkt haben wollten.

Auch den Österreicher Markus Schleinzer haben diese Fälle so berührt, dass sie ihn zu seinem ersten eigenen Film brachten. Eigentlich ist er Casting-Direktor und war unter anderem für die Besetzung bei den oscarprämierten Filmen "Die Fälscher" und "Das weiße Band" verantwortlich.

Der Entführungsfall Natascha Kampusch auf dem Cover einer Zeitschrift 2006 (Foto: AP)
Berichterstattung über Natascha KampuschBild: AP

"Michael", so der Titel von Schleinzers Debütfilm, wurde im vergangenen Jahr für den Europäischen Filmpreis nominiert und gewann gerade beim Filmfestival in Saarbrücken den Max Ophüls Preis. Seit dem 26.01.2012 ist "Michael" in deutschen Kinos zu sehen. Bernd Sobolla hat mit dem Regisseur und seinem Hauptdarsteller Michael Fuith gesprochen.

Bericht jenseits des Boulevard

DW-WORLD.DE: Sie haben als Casting-Director an der Besetzung von rund 60 Filmen mitgewirkt. Dass man dabei mal Lust bekommt, selber einen Film zu drehen, ist nachvollziehbar. Aber warum haben Sie sich bei Ihrem Debütfilm für einen so harten Stoff entschieden?

Markus Schleinzer: Ich habe Ende 2008 ernsthaft darüber nachgedacht, einen ersten eigenen Film zu machen und habe mich gefragt: Was sind die Themen, die mich interessieren? Was findet gerade statt? Dann habe ich drei verschiedene Geschichten entwickelt, diese einigen Freunden vorgestellt, und die Geschichte, die die heftigsten Diskussionen ausgelöst hat, war "Michael". Da gab es dann keinen Zweifel mehr für mich. Zumal ja das Thema omnipräsent ist.

2008, das war das Jahr von Madeleine McCann, das Mädchen, das in Portugal verschwand. Und in Österreich distanzierte sich die Öffentlichkeit allmählich von Natascha Kampusch, weil die nicht bereit war, ihren Entführer zu dem Monster zu machen, als das die Medien ihn beschrieben.

Das Leid der Opfer soll ihr Leid bleiben

Insofern war ich erstaunt, dass sich niemand aus der so genannten 'Hochkultur' traute, einen anderen Blickwinkel einzunehmen als den des Boulevards, der sich nicht für Inhalte, sondern für Auflagezahlen interessiert. Allerdings muss ich gestehen, dass ich nicht völlig frei von der Voyeur-Gesellschaft war und auch selbst die Schreckensnachrichten verfolgt habe. So kam die Überlegung: "Wie kann man anders über dieses Thema berichten?"

Wie wurde die Idee zu Ihrem Film bei Fernsehredaktionen und Filmförderern angenommen?

Österreich ist kein reiches Filmland. Der Kuchen ist relativ klein, und um diesen Kuchen scharen sich relativ viele Filmemacher. Da will man sich natürlich absichern. Und die Frage, die immer gestellt wurde, lautete: Ja, darf man denn das? Aber diese Frage stellte sich mir gar nicht. Für mich war die Frage: Soll man das? Und darauf gibt es eine klare Antwort. Das Geld haben wir dann immer im ersten Durchgang einstimmig bekommen. Es hat mich selber erstaunt, wie einfach es war, diesen Film finanziert zu bekommen.

Sie sagen, dass Natascha Kampusch ein vermisstes Kind unter vielen war - in Deutschland gelten rund 1800 Kinder als dauerhaft vermisst - und dass das Phänomen als solches für Sie ausschlaggebend für den Film war. Wie haben Sie das Profil eines solchen Täters recherchiert?

Ich habe mir verboten zu recherchieren. Natürlich war ich angereichert durch die vielen Medienberichte. Aber ich wollte nicht in die Falle tappen und etwas finden, das interessant oder spannend war, so dass ich es für mein "Kunstschaffen" benutzen oder gar missbrauchen würde. Das reale Leid gehört den realen Opfern. Und die sollen bestimmen, was sie damit tun wollen. Wollen sie damit den Buchmarkt überschwemmen? Oder wollen sie es mit Experten aufarbeiten?

Regisseur Markus Schleinzer (Foto: NGF)
Markus SchleinzerBild: NGF

Seelenleben eines Pädophilen

Ich habe eine Hauptfigur geschaffen, die, und das ist vielleicht das Erschreckende, nichts anderes will als die meisten von uns: Er will auch eine Beziehung haben, er will auch glücklich sein, er will auch Liebe erleben. Darum geht es – auch bei dieser Neigung. Aber wie ist das, wenn man pädophil ist? Wann erkennt man das an sich selbst?

Wahrscheinlich in den späten Jahren der Pubertät, wenn man sieht, dass die Leute, die einen anziehen, immer dasselbe Alter haben, man selber aber älter wird. Dann kommt der Zeitpunkt, wo die Tanten und die Großmütter fragen: "Wann bringst du endlich eine Freundin mit?" Das muss schrecklich sein. Dann die langen Jahre der Einsamkeit. Dann bekommt er dieses Haus, und schließlich summieren sich die Zufälle und die Neigung zu einer unglücklichen Allianz.

Szene aus dem Film "Michael": eine blaue Tür mit Riegel, hinter der der Junge gefangen gehalten wird (Foto: NGF)
Hinter dieser Tür wird "Michael" gefangen gehaltenBild: NGF

Dabei ist nicht jeder Pädophile ein Krimineller. Pädophilie ist nur die Neigung. Und es gibt Menschen, die das nicht ausleben, sondern Hilfe suchen oder laut darüber sprechen. Kriminell wird man erst, wenn man seinen pädophilen Neigungen nachgibt. Dazu gehört es, einen "normalen" Alltag zu leben. Und es gibt nichts Besseres, was Kriminalität verbergen kann, als Normalität.

Sie benutzen eine Kamera, die sehr starr wirkt. Bot sich das bei dieser Thematik an oder ist das möglicherweise ein Teil der Wiener Schule?

Das Empfinden haben viele Leute. Aber zwei Drittel der Aufnahmen wurden aus der Hand aufgenommen. Ich glaube, diese vermeintliche Starre beruht auf der sehr langsamen Erzählweise. Wir haben wenige Szenen geschnitten. Ich komme aus dem Casting-Beruf. Menschen und Schauspieler sind mein Beruf und meine Liebe. Und ich finde nichts schöner, als wenn man Menschen dabei zuschauen kann, wie sie über einen Zeitraum etwas entwickeln können. Und zwar aus ihrem Talent heraus und nicht, weil man es mit dramatischer oder emotionaler Filmmusik unterstützt oder mit vielen Kameraeinstellungen und Effekten. Ruhe zu geben und Distanz zu wahren war mir von Anfang an wichtig.

Der Film ist im September in Österreich gestartet. Wie ist er aufgenommen worden?

Sehr gut, und das freut mich auch sehr. Ich glaube, Österreich konnte es sich nicht mehr leisten, diese Dinge auf die Seite zu schieben. Es war fast bizarr: Jedes Mal, wenn ich für diesen Film irgendeinen wichtigen Termin hatte, gab es wieder irgendeinen Skandal: Mal war es ein Missbrauchsfall in der Kirche, dann wurde ein schrecklicher Kriminalfall aus den 1960er Jahren aufgedeckt, als ein Kinderheim in Wien wie ein Bordell gehalten wurde. Dieser Fall wird gerade aufgeklärt. Es war mir fast unangenehm, weil ich das Gefühl hatte, als ob da eine Werbemaschine lief.

Prozess gegen Josf fritzl 2009 (Foto: AP)
Prozeß gegen Josef Fritzl 2009Bild: AP

Erste Reaktion: Abwehr

Michael Fuith, Sie spielen die Hauptrolle in Markus Schleinzers Film. Normalerweise reißen sich Schauspieler darum, außergewöhnliche Charaktere zu spielen. Wie sah das bei diesem Film für Sie aus?

Michael Fuith: Im ersten Moment wollte ich das natürlich nicht spielen. Als ich dann aber das Drehbuch las, sah ich, dass das der einzig richtige, intelligente Zugang zu dem Thema war. Mir gefiel vor allem, dass das Drehbuch nicht auf Effekte setzte und die Opfer quasi ausbeutete. Bei meinen Recherchen ist mir dann das allgemeine Schweigen aller Menschen aufgefallen. Das Schweigen der Täter, der Opfer, der Familienmitglieder.

Die Sozialtherapeuten und Psychologen haben große Schwierigkeiten zu helfen, weil kaum einer etwas sagt. Das kreiert dann so eine Art Schutzmantel für die Täter. Das hat mich geärgert. Da habe ich mir gedacht, dass ich dem Ganzen ein Gesicht geben will. So dass man auch außerhalb der Boulevardpresse, außerhalb der Schlagzeilen darüber reden kann. Damit sich bei den Leuten ein Bewusstsein entwickelt und sie sich damit beschäftigen. Da habe ich dann die Zähne zusammengebissen und gesagt: "Okay, das will ich machen!"

Autor: Bernd Sobolla
Redaktion: Marlis Schaum