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Suizidserie im Tourismusparadies

2. Dezember 2010

Sonne, Strand, Karibik, Klimagipfel: Cancún sorgt derzeit als einer der wenigen Orte in Mexiko für positive Schlagzeilen, doch das Ferienparadies hat die höchste Suizidrate im Land. Dafür gibt es auch ökonomische Gründe.

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Hotel Oasis in Cancun, Karibikstrand (Foto: OASIS)
Am Strand von Cancún -Mexikos Hauptstadt des Suizids

Mit einem Messer in der Brust wurde Carlos Alberto, ein Hotelangestellter, in seiner Küche aufgefunden. Schnell war klar, dass es sich um Suizid handelte. "Ich habe mich so erschrocken", erinnert sich seine Lebensgefährtin Gildred. Schon zwei Wochen zuvor hatte Carlos Alberto versucht, sich das Leben zu nehmen, damals durch eine Überdosis von Medikamenten.

Das Besondere an diesem Selbstmordfall ist seine Gewöhnlichkeit. Cancún, mit jährlich drei Millionen Urlaubern und seinen zahlreichen Fünf-Sternehotels ein angesagtes Urlaubsparadies im mexikanischen Karibikzipfel, hat die höchste Suizidrate Mexikos. Innerhalb von vier Jahren hat sich die Zahl der Selbsttötungen verdoppelt, mit einem Höhepunkt von 105 im Jahr 2007. Eine Tatsache, die nicht in die internationale Wahrnehmung von Cancún passt, das als Ort der Erholung und der Erlebnisse gilt, der trotz Drogenkrieg fast ausschließlich heitere Schlagzeilen liefert.

Feuerwehrmann vor Schulklasse in Cancún (Foto: DW/Felix Lill)
Feuerwehrmann vor Schulklasse in Cancún: "Das Problem der Selbstmorde vorsichtig erwähnen"Bild: Felix Lill

"Aber wir wissen, dass sich dieses Problem nicht lösen wird", seufzt Alfredo Pereyra. Im kleinen, kahlen Raum hängt ein Spiegel knapp über dem Fliesenboden, an der Wand gegenüber ein Bild vom gekreuzigten Jesus Christus. Pereyra, der neben dem Spiegel in einem Sessel aus Bast sitzt, ist Psychologe und arbeitet für die private Betreuungseinrichtung CEDAC, das "Spirituelle Zentrum für Krisenbetreuung", gegründet vor vier Jahren als Antwort auf die hohe Suizidrate. "Wir arbeiten schon jetzt jenseits unserer Möglichkeiten, machen Überstunden, aber die Selbstmorde passieren noch immer."

Wellen der Depression am Karibikstrand

Als Stadt entwickelte sich Cancún vor knapp 40 Jahren am Reißbrett. "Hier entsteht ein Feriengebiet", versprachen Schilder damals, dort, wo sich heute Hoteltürme aneinanderreihen. Zahlungswillige Urlauber sonnen sich hier heutzutage. Nach vorne sind die Resorts durch das karibische Meer begrenzt, nach hinten von der Schnellstraße, die die "zona hotelera", die Hotelzone, mit der Stadt verbindet. Die schaut eher langweilig drein, ohne Sehenswürdigkeiten, funktionalistisch errichtet voller einfacher Wohnhäuser.

Der Gaviota Azul Strand in Cancun (Foto: AP)
Cancúns "Hotelzone", hier der Gaviota Azul Strand: Verheißungen von Arbeit und Wohlstand (Foto: AP)Bild: AP

Die Schilder, die das große Feriengebiet ankündigten, haben auch an die rund eine Million Mexikaner, die über die Jahre nach Cancún gezogen sind, ein Versprechen ausgesprochen: Arbeit und ein Leben in Wohlstand. Aber wenn der Tourismus in der Nebensaison erlahmt, schlägt die saisonale Arbeitslosigkeit zu und sorgt regelmäßig für Wellen der Depression. Dann gibt es kein Geld und oft auch keine Versicherung für einen Job in den nächsten Monaten. So könnte es auch für Carlos Alberto ausgehen haben, der schon in psychologischer Behandlung stand.

Drogen und Einsamkeit

"Unterschiedliche Probleme kumulieren sich und das Maß an Kummer und Hoffnungslosigkeit wird unerträglich. Einige nehmen sich das Leben", meint Pereyra, als er seinen Blick auf das Bild von Jesus richtet. "Die meisten Menschen wollen nicht sterben. Sie wissen nur keinen Ausweg."

Den meisten Selbstmorden in Cancún geht eine Depression voraus, häufig auch Drogenkonsum und finanzielle Probleme. Meistens sind es Familienväter, die dem Druck, ihre Frau und Kinder ernähren zu müssen, wohl nicht mehr standhalten konnten. Für Drogen besteht nicht zuletzt durch den Tourismus ein lebendiger Markt. Einsamkeit ist ein weiteres Problem, denn fast jeder in Cancún ist zugezogen. Auch sei der Gegensatz zwischen Luxustourismus und harten Arbeitsbedingungen mit meist geringem und unsicherem Einkommen ein Faktor.

Die Politik beginnt, sich der Sache anzunehmen. Vor kurzem gründete Cancúns Stadtverwaltung eine Arbeitsgruppe, die mehr über die Ursachen und Chancen der Vorbeugung herausfinden soll. Ein erster Ansatz ist, an Wochenenden, wenn Selbstmorde statistisch am häufigsten auftreten, den Verkauf von Alkoholika zu beschränken.

Zwiespältige Rolle der Medien

CEDAC hat als erstes die Selbstmorde thematisiert. Von ihrem kleinen Haus im Osten der Stadt aus führen Pereyra und seine vier Kollegen täglich einen Kampf gegen Unbekannt. Rund um die Uhr betreiben sie eine Telefonseelsorge, bei der Menschen, die mit dem Gedanken spielen, um Rat fragen können oder von ihren Problemen erzählen. Mittlerweile gehen täglich mindestens zwei Anrufe bei CEDAC ein. Gespräche dauern oft länger als eine Stunde, die Psychologen hören größtenteils zu, stellen Fragen und schlagen Lösungen vor. Regelmäßig erscheinen auch Radiobeiträge über die Einrichtung. Diesen Sommer klapperten Pereyra und seine Mitstreiter wieder einmal eine Wohngegend nach der anderen ab, um in besonders gefährdeten Gegenden präventive Gespräche zu führen.

Feuerwehrauto in Cancun rückt aus (Foto: AP)
Feuerwehrchef Moreno: "Meistens ist es zu spät, wenn wir solche Notrufe erhalten."Bild: Felix Lill

Mittlerweile ist der Suizid ein öffentliches Thema. Neue Fälle füllen regelmäßig die Titelseiten der Sensationspresse, mit Fotos von erhängten Menschen oder blassen Leichen. Seit einige Medien das Thema für sich entdeckt haben, ist auch die Anzahl der Fälle gestiegen. "Wir haben das Medienecho der letzten Jahre analysiert", sagt Pereyra, als er zwei Büroordner aus dem Nebenraum holt. "Hier sind die in unseren Augen schädlichen Berichterstattungen, sensationalistisch oder voyeuristisch." Der Ordner ist prall gefüllt mit ausgeschnittenen Artikeln, abstoßenden Bildern und Ausrufezeichen.

Ein deutlich schmalerer Ordner bewahrt die aus seiner Sicht wünschenswerten Berichte auf, mit Ratschlägen zur Prävention und der Telefonnummer von CEDAC. "Vor allem verkaufen sie den Selbstmord nicht als Attraktion und legitime Erwägung." Vor einigen Monaten etwa wurde ein elfjähriges Kind mit einer Schlinge um den Kopf in letzter Minute gerettet. In einer Zeitung hatte es einen erhängten Selbstmörder gesehen und wollte die Szene nur nachspielen.

Feuerwehrmänner gegen Suizide

"Meistens ist es schon zu spät, wenn wir solche Notrufe erhalten", sagt Vicente Moreno, Chef von Cancúns Feuerwehr, die sich auch im "Kampf gegen den Suizid", wie Moreno sagt, engagiert. Auf der Wache im Stadtzentrum ist gerade eine Schulklasse zu Gast. Ein Feuerwehrmann erzählt den etwa Zehnjährigen von den Gefahren, die das Feuer bringen kann. In einem Nebensatz versucht er, das Problem der Suizide vorsichtig zu erwähnen.

"Manchmal müssen wir ausrücken, um Menschen davor zu retten, sich selbst das Leben zu nehmen", sagt der Mann in Uniform. "Das sind für uns die schlimmsten Fälle. Denn jeder will doch eigentlich leben." Die Kinder nicken. Seit der Gründung von CEDAC hat sich die Anzahl der Fälle schon etwas reduziert. Aber wie kürzlich eine Umfrage zeigte, haben auch elf Prozent der Jugendlichen in den letzten Monaten über Freitod nachgedacht.

Autor: Felix Lill

Redaktion: Sven Töniges