Menschenrechtspreis für Ilham Tohti
11. Oktober 2016Mit der Preisverleihung würdigen zehn bekannte Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International und Human Rights Watch, und die Schweizer Stadt Genf solche Personen, die sich "unter Inkaufnahme großer persönlicher Risiken" für die Verteidigung der Menschenrechte eingesetzt haben. Tohti war im September 2014 vom Mittleren Volksgericht in Ürümqi in der Autonomen Region Xinjiang nach einem zweitägigen Prozess wegen "Anstiftung zum Separatismus" zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden.
Laut der Mitteilung der Jury des Martin-Ennals-Preises hat sich Tohti "zwei Jahrzehnte lang für Dialog und gegenseitiges Verstehen zwischen der Volksgruppe der Uiguren und der chinesischen Mehrheitsgesellschaft eingesetzt." Er habe Separatismus und Gewalt abgelehnt. Etwa zehn Millionen Uiguren, ein turksprachiges Volk, leben derzeit im Nordwesten Chinas.
Tohtis Anwalt Li Fangping bekräftigte im Interview mit der Deutschen Welle: "Tohti hat sich immer für eine Autonomie im Rahmen der chinesischen Verfassung ausgesprochen, nicht für Separatismus. Insofern steht seine Verurteilung zu lebenslanger Haft wegen 'Separatismus' im direkten Widerspruch zu den Grundüberzeugungen, an die sich Tohti immer gehalten hat." Li hat nach eigener Aussage seit dem Urteilsspruch gegen seinen Mandanten keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Tohtis Frau dürfe ihn alle drei Monate im Gefängnis in Xinjiang besuchen.
Akademiker und Kritiker Pekings
Tohti, der selber ein Uigure ist, wurde 1969 im kleinen Städtchen Artush in Chinas westlicher Autonomer Region Xinjiang geboren. Zum Studium zog er aus der Provinz über Zwischenstationen nach Peking, wo er zu einem angesehenen Wirtschaftswissenschaftler avancierte. An der speziell für Studenten der verschiedenen Minoritäten Chinas errichteten Minzu-Universität in Peking forschte Tohti über mehrere Jahre über die soziale Lage der Uiguren in Xinjiang. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass die Uiguren in Xinjiang keineswegs der Volksgruppe Han gleichgestellt sind, die knapp 90 Prozent der chinesischen Bevölkerung ausmacht. Im Gegenteil: Für Uiguren gebe es weniger Arbeitsplätze, sie würden für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt und von den chinesischen Behörden systematisch benachteiligt.
Wiederholt kritisierte Tohti die Politik der Zentralregierung gegenüber den Uiguren. Im Gegensatz zu anderen uigurischen Menschenrechtsaktivisten - wie die in den USA lebende Rebiyah Kadeer - gilt er als gemäßigter Regimekritiker, der immer für eine bessere Verständigung zwischen Uiguren und Han-Chinesen geworben hat. "Er ist sogar der einzige einflussreiche uigurische Intellektuelle, der öffentlich die Meinung vertritt, dass Xinjiang weiter zu China gehören und einen Autonomiestatus nach demokratischen Prinzipien bekommen soll", sagt der bekannte chinesische Schriftsteller Wang Lixiong, "das unterscheidet ihn stark von den meisten Exil-Uiguren."
Warnung vor Eskalation
Im Jahr 2006 gründete Tohti die Webseite "Uyghur online", die die Belange der Uiguren thematisieren sollte. Zwei Jahre später wurde die Seite von den chinesischen Behörden gesperrt und Tohti unter der Anschuldigung verhaftet, er würde den uigurischen Separatismus fördern. Anfang Juli 2009 brachen in der Provinzhauptstadt Ürümqi schwere Unruhen aus, mehr als 150 Menschen starben. Erneut wurde Tothi verhaftet, unter dem Vorwurf, die Aufstände angestachelt zu haben. Auf internationalen Druck hin wurde er wenige Wochen später wieder freigelassen.
"Spannungen zwischen Han-Chinesen und Uiguren gab es schon früher", sagte Tohti im September 2009 nach den tödlichen Unruhen gegenüber der DW, "aber sie haben sich nie zum gegenseitigen Hass ausgeweitet. Ich bin der Meinung, dass das Vertrauen zwischen der uigurischen Minderheit und den Han-Chinesen jetzt aber zerstört ist und der ethnische Hass mittlerweile eine feste Form angenommen hat. Wenn die Regierung in Peking das nicht unter Kontrolle bekommt und sich weiterhin wie ein Kolonialherr verhält, dann wird man Tragödien wie diese immer wieder erleben."
Schuldspruch als Formsache
In der Folgezeit, in der es immer wieder zu blutigen Anschlägen und Auseinandersetzungen in Xinjiang kam, stand Ilham Tohti wiederholt unter Hausarrest. Nach seiner Festnahme in Peking im Januar 2014 wurde er ins 2500 Kilometer entfernte Ürümqi gebracht, wo die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den damals 44-Jährigen erhoben hatte. Der gegen ihn erhobene Vorwurf lautet "Separatismus und Anstiftung zum Rassenhass." Der Schuldspruch war dann nach Ansicht westlicher China-Experten nur noch Formsache.
"Indem China die gemäßigte Stimme von Ilham Tohti ausschaltet, schafft es die Voraussetzungen für den Extremismus, den es angeblich bekämpfen will", heißt es in der Mitteilung der Martin-Ennals-Stiftung, die nach dem ersten Generalsekretär von Amnesty International benannt ist. Ilham Tohti ist 2016 auch für den renommierten EU-Menschenrechtspreis, den Sacharow-Preis, nominiert. Die Entscheidung soll am 27. Oktober verkündet werden.