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Politik

Der Traum vom barrierefreien Leben

Oxana Evdokimova
31. März 2019

Aktivisten, die sich in Osteuropa und Zentralasien für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzten, haben in Berlin ihre Erfahrungen ausgetauscht. DW-Reporterin Oxana Evdokimova hat drei von ihnen getroffen.

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Giorgi Dzneladze
Bild: DW/O. Evdokimova

Die Flure sind lang und eignen sich perfekt für eine schnelle Fahrt in einem Rollstuhl. Giorgi Dzneladze macht sofort Gebrauch davon. "Schauen Sie, wie wendig ich bin", ruft der 60-jährige Georgier und flitzt davon. Seine Augen leuchten. "Das ist ein Rough Rider unter den Rollstühlen. Sogar im Wald bin ich schon damit durchgekommen."

Die langen Flure liegen im Bürogebäude des Deutschen Bundestages, wo sich Vertreter von Behindertenverbänden zu einer internationalen Konferenz treffen - sie kommen unter anderem aus der Ukraine, Weißrussland, Kirgisistan, Tadschikistan, Georgien, Russland und Kasachstan. 

Giorgi Dzneladze ist einer von ihnen. Seinen Rollstuhl hat er selbst entwickelt. Das Offroad-Modell ist in Georgien gefragt, erzählt er. "Wir bauen es in unserer Werkstatt in Tiflis. Die Hälfte der Mitarbeiter sind Menschen mit Behinderung." Ein Rollstuhl muss perfekt zu den Bedürfnissen des Fahrers passen, ist Dzneladze überzeugt. "Sonst überlebst du nicht."

Der Aktivist aus Georgien: "Die Barrieren in den Köpfen überwinden"

Er weiß, wovon er spricht. Seit 43 Jahren führt Giorgi Dzneladze ein Leben im Rollstuhl. Nach einem Tauchunfall konnte er nicht mehr gehen, litt viele Jahre an Depressionen. Doch irgendwann verstand er: Es gibt keine andere Wahl, als zu leben. Er hat seine Behinderung akzeptiert und angefangen, für seine Autonomie zu kämpfen. Damals war Georgien noch ein Teil der Sowjetunion. "Die sowjetische Gesellschaft war auf starke, leistungsfähige Menschen ausgerichtet. Für uns, Menschen mit körperlichen oder geistigen Schwächen, gab es einfach keinen Platz", erinnert er sich.  

Und wir müssen immer noch für unseren Platz kämpfen, so Dzneladze. Das Schwierigste ist dabei, die Barrieren in Köpfen der Menschen abzubauen. 2003 hat er einen Verein gegründet und ihn "Für ein unabhängiges Leben" genannt. "Jeder Mensch will unabhängig sein. Egal ob mit oder ohne Einschränkung", sagt er. Seither ist das sein Lebensmotto. Sein Traum. Sein Ziel.

Er kämpft gegen die Bürokratie in Georgien, für bessere Gesetze, für eine barrierefreie Infrastruktur. "Warum tun viele Menschen immer noch so, als gäbe es uns nicht? Menschen fliegen ins All, aber für uns bleibt so vieles unzugänglich." Das nennt er technologisch nicht zeitgemäß und gesellschaftlich rückständig und schüttelt dabei energisch den Kopf.

Dzneladze erzählt von Menschen, die in Georgien mit ihren Problemen alleine gelassen werden, ohne jegliche Unterstützung, sie sich wund liegen und an Depressionen leiden. Er besucht sie, erzählt von seiner Frau und seinen Kindern, seinem Studium an der Uni - das alles habe er hinbekommen, trotz seiner Behinderung, trotz mangelnder Infrastruktur und Unterstützung.

Im Verein "Inklusion rockt. Musik für alle"
Inklusion rockt - das Konzert von Künstlern mit und ohne Behinderung begeisterte Abdullo Abduchalilov aus Usbekistan Bild: DW/O. Evdokimova

"Die Politik nimmt unsere Forderungen kaum wahr", sagt er. "Wir haben keine Lobby. Es fehlt an finanzieller Unterstützung, an integrativen Konzepten. Dafür müssten wir auch die Mentalität unserer Bevölkerung ändern." Dzneladze wünscht sich Inklusion, wie sie in vielen westlichen Ländern funktioniert. Doch davon ist sein Heimatland an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien noch meilenweit entfernt.

Die russische Politikerin im Rollstuhl: "Ins Parlament getragen"

Obwohl in Russland rund 12 Millionen Menschen mit Behinderung leben, begegnet man ihnen selten auf der Straße, erzählt Marina Borissenkowa. "Viele Wohnungen sind nicht an unsere Bedürfnisse angepasst. Das macht es oft sehr schwer oder unmöglich, aus ihnen herauszukommen." Die 43-jährige Russin ist querschnittsgelähmt. Sie leitet den Verband für Menschen mit Behinderung im Pskow-Gebiet, das nur 50 Kilometer von der Grenze Estlands und damit der EU entfernt liegt.

Besonders schwer, sagt Borissenkowa, haben es Menschen mit geistiger Behinderung in Russland. Viele von ihnen leben in geschlossenen Einrichtungen. Marina kritisiert, dass Eltern von Kindern mit Behinderung in ihrem Heimatland um elementare Unterstützung kämpfen müssen. Sie mahnt, dass integrative Kindergärten und Schulen keine Ausnahme bleiben dürfen.

Marina Borissenkowa, Abgeordnete im Regionalparlament, Pskow-Gebiet
In Russland hat sich einiges schon positiv verändert - Kommunalpolitikerin Marina BorissenkowaBild: DW/O. Evdokimova

Es fehlt an Rehabilitationsprogrammen, so Borissenkowa. Um das zu ändern, ist sie in die Politik gegangen und vor drei Jahren als parteilose Abgeordnete ins Regionalparlament im Pskow-Gebiet eingezogen. Sie wurde die erste Politikerin ihrer Region im Rollstuhl. Ins Abgeordnetenhaus muss sie getragen werden, denn es gibt im Gebäude keinen Aufzug.

Sie bleibt trotz dieser Schwierigkeiten optimistisch und zählt auf, was sich in ihrer Region in den vergangenen Jahren zum Positiven geändert hat. Dank der sozialen Medien sei es zum Beispiel einfacher geworden, sich zu vernetzen. "Es ermuntert viele Menschen, eigene Projekte selbst in die Hand zu nehmen, aktiver zu sein." Borissenkowa berichtet vom Theater mit Schauspielern mit Behinderung in Pskow. "Wir haben auch eine Frauenband. Sie kommen mit ihrer Musik gut an. Ihre körperlichen Einschränkungen stehen ihnen dabei nicht im Weg".

Borissenkowa ist zum ersten Mal in Berlin. Sie ist begeistert, wie unkompliziert es ist, sich im Rollstuhl durch die Stadt zu bewegen. "Klar, bis wir in Pskow ähnliche Zustände haben, wird noch Zeit vergehen. Aber ich bin zuversichtlich, dass eines Tages Barrierefreiheit auch in Russland Wirklichkeit wird. Und wer weiß, vielleicht haben wir irgendwann auch einen Präsidenten im Rollstuhl oder sogar eine Präsidentin." Sie lächelt.

Der Unbeugsame aus Usbekistan: "Zu 90 Prozent unzugänglich"

Abdullo Abduchalilov, Vize-Vorsitzender der Assoziation für Menschen mit Behinderung in Usbekistan, ist seit der Geburt blind. Er ist nach Berlin zusammen mit seinem Kollegen gekommen und wird von ihm durch die Stadt begleitet. In der U-Bahn will er wissen, wie er erfahren kann, wann der Bahnsteig endet. "In Usbekistan bin ich zwei Mal auf die Gleise runtergefallen und habe dabei mein Hüftgelenk verletzt", erzählt er. Sein Begleiter weist ihn auf die Rillen im Fußboden hin. Vorsichtig betastet Abdullo Abduchalilov sie mit seinem Schuh und lächelt zufrieden.

Abdullo Abdukhalilov
Seine Heimat ist von Barrierefreiheit weit entfernt - Abdullo Abduchalilov (links) aus Usbekistan mit BegleiterBild: DW/O. Evdokimova

Er erzählt, dass Usbekistan fast zu 90 Prozent nicht barrierefrei ist. Es gibt kaum Tagesbetreuung und ambulante Hilfen für Menschen mit Behinderung, von Inklusion ganz zu schweigen. "Wir, Menschen mit Behinderung, sind in Usbekistan unsichtbar. Wir versuchen mit kleineren Initiativen dagegen zu kämpfen. Doch ist es sehr mühsam", sagt Abduchalilov.

In Berlin hat er ein Konzert in der Alten Feuerwache in Friedrichshain besucht. Organisiert hat es der Verein "Inklusion rockt. Musik für Alle". Auf der Bühne sind Künstler mit und ohne Behinderung aufgetreten. "Annuschka im Rollstuhl aus Berlin hat schön gesungen und natürlich Guljachon aus Taschkent", freut er sich. Er konnte sie zwar nicht sehen, aber er hat die Musik gespürt. Mit all seinen Sinnen.