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Politik

Nur Worte werden das Problem nicht lösen

DW-Kommentarbild Marina Strauß App PROVISORISCH
Marina Strauß
30. September 2020

Ein Bericht beleuchtet zum ersten Mal, wie es um die Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Staaten steht. Nicht gut, könnte das Fazit lauten. Doch allein ein Bericht wird daran nicht viel ändern, meint Marina Strauß.

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Bulgarien I Proteste in Sofia
In Bulgarien protestieren seit Wochen Tausende gegen die Regierung - und hoffen auf die EUBild: picture-alliance/dpa/V. Petrova

In Bulgarien gehen seit Anfang Juli Tausende, manchmal Zehntausende Menschen auf die Straße. Jeden Tag. Und trotzdem weitgehend unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit. Selbst wenn man politisch Interessierten davon erzählt, kommt oft die Frage: Bulgarien? Du meinst Belarus, oder?

Tatsache ist: Die Demonstranten in Bulgarien sind ähnlich wütend. Nicht nur auf ihre eigene Führung: Sie fordern mit "Boiko-Ciao-Gesängen" den Rücktritt von Premier Boiko Borissow und auch den von Generalstaatsanwalt Ivan Geshev. Ihr Land, so der Vorwurf, leide an Korruption, dem Missbrauch von EU-Geldern und an einem dysfunktionalen Justizsystem.

Enttäuscht von der Europäischen Union

Im EU-Mitgliedsstaat Bulgarien sind viele der Menschen auf der Straße enttäuscht von der Europäischen Union, wünschen sich, dass diese den Druck auf ihre Regierung erhöht, endlich konkrete Maßnahmen ergreift.

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DW-Europakorrespondentin Marina Strauß

Doch der Bericht über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der EU, den die EU-Kommission, das Exekutivorgan der Union, an diesem Mittwoch vorgestellt hat, wird daran wohl kaum etwas ändern. Auch wenn man dem Report zumindest eines zugutehalten kann: Er analysiert zum ersten Mal, wie es um die Rechtsstaatlichkeit in allen 27 EU-Ländern steht. Das Ergebnis: Bei einer ganzen Reihe von EU-Mitgliedsstaaten wie eben Bulgarien, aber auch Tschechien, Kroatien, der Slowakei und Malta hapert es. Selbst Deutschland kommt nicht ganz ungeschoren davon.

Die EU Kommission schaltet also mehrere Scheinwerfer an: Denn bisher lag - auch der mediale - Fokus vor allem auf Polen und Ungarn. Nicht ohne Grund: Beiden Ländern attestiert auch dieser Bericht "ernsthafte Bedenken" zur Unabhängigkeit der Justiz. Gegen beide laufen seit Jahren Artikel-7-Verfahren, mit dem Verstöße gegen EU-Grundwerte sanktioniert werden können. Und beide zeigen keine große Bereitschaft zum Dialog, wenn es um das Thema Rechtsstaatlichkeit geht. Sinnbildlich dafür: Ungarns Regierungschef Viktor Orban verlangte kürzlich den Rücktritt von EU-Kommissions-Vize Vera Jourova, weil diese in einem Interview sein Land als "kranke Demokratie" bezeichnet hatte.

Ein "Dialog" über Grundwerte soll die Lösung sein?

Deswegen ist es verwunderlich, dass die Kommission den nun einmal jährlich erscheinenden Bericht als Ausgangspunkt nehmen will, um "einen Dialog" über gemeinsame Grundwerte zu starten. Wir müssen reden! Das soll die Lösung für ein so tiefgreifendes Problem sein? Die Fälle Ungarn und Polen sind das beste Beispiel dafür, dass Worte allein nicht viel helfen. Es bleibt also zu befürchten, dass der Bericht ein interessant zu lesender, aber letztlich folgenloser Stapel Papier bleiben wird.

Was die EU wirklich braucht, ist ein wirksamer Mechanismus, der die Rechtsstaaten innerhalb der EU schützt. Verstöße müssen endlich empfindlich wehtun. Und was würde mehr schmerzen, als einem EU-Land Subventionen zu streichen oder sogar Strafen aufzubrummen?

Ein Hoffnungsschimmer: An diesem Mittwoch haben Vertreter der Mehrheit der EU-Staaten einen konkreten Vorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft gebilligt, mit dem Länder endlich konkret bestraft werden können, wenn sie gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Natürlich wurde dieser Plan verwässert und ist im Vergleich zu früheren Vorschlägen viel zu zahm. Aber immerhin.

Ein Schlag ins Gesicht der Demonstranten in Bulgarien

Fatal - und wenig überraschend - ist allerdings, dass Ungarn und Polen mauern. Sie haben ein wichtiges Druckmittel in der Hand: Um den Rechtsstaats-Mechanismus zu verhindern, könnten sie den im Juli - lange und mit viel Schweiß - ausgehandelten siebenjährigen EU-Haushalt sowie den Corona-Wiederaufbaufonds blockieren. Für EU-Staaten, deren Wirtschaft besonders unter der COVID-19-Pandemie gelitten hat, könnte das den Stoß von der Klippe bedeuten.

Doch wenn es die EU nicht schaffen sollte, einen wirklich wirksamen Rechtsstaats-Mechanismus durchzusetzen, wäre das ein Schlag ins Gesicht der Demonstranten in Bulgarien. Denn nicht nur sie würden immer mehr den Glauben an eine Union verlieren, die nicht in der Lage ist, ihre eigenen Werte zu verteidigen. Und diejenigen, die die Grundrechte ihrer Bürger seit Jahren mit Füßen treten, könnten sich als Gewinner fühlen.