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GesellschaftDeutschland

Leben und leben lassen

Jeanette Wagner, DW Bonn - provisorisches Bild
Jennifer Wagner
1. Januar 2022

Im neuen Jahr könnten wir uns alle viel mehr auf das Positive konzentrieren und uns weniger über Dinge echauffieren, die uns gar nichts angehen, meint Jennifer Wagner.

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Zwei junge Frauen mit ihren kleinen Kindern sitzen an einem Sandkasten auf einem Spielplatz
"Nur mein Weg ist der Richtige!" - viele junge Eltern sind gegenüber anderen sehr intolerantBild: Gaetan Bally/picture alliance

Die Zeit der Besinnlichkeit ist vorbei. Aber nicht nur, weil die Weihnachtstage passé sind. Schon länger tun wir uns schwer mit purer Entspannung, reiner Beobachtung oder der positiven Steigerung: Wertschätzung. Lassen Sie uns das 2022 besser machen!

Derzeit ist die gesellschaftliche Debatte geprägt durch Vorwürfe, Urteile und Verunglimpfungen. Dabei sind es gar nicht nur die Hass-Kommentare auf einschlägigen Social Media-Plattformen, tätliche Angriffe auf Verantwortliche in der Politik oder rassistische, sexistische oder sonstige Beleidigungen, die hoffentlich alle angezeigt werden. Nein, es sind die unterschwelligen oder auch offensichtlichen Anschuldigungen, dass sich Menschen nicht nach einer gewissen Norm verhalten, die das tägliche Miteinander on- wie offline - prägen. Und zwar negativ.

Erhitzte Debatten in der Eltern-Blase

Einige Beispiele: Eltern entscheiden sich für eine Corona-Impfung für ihre Kinder, wenn dies dann sogar "off label" - also ohne Impfstoff-Zulassung für diese Altersgruppe - passiert, ist die Empörung riesig. Die Eltern, meist die Mütter, müssen Beschimpfungen oder Bedrohungen aushalten, die die Anerkennung anderer kleiner erscheinen lässt, als sie eigentlich ist - denn die gibt es auch.

Jennifer Wagner DW Bonn - provisorisches Bild
DW-Autorin Jennifer WagnerBild: DW/F. Görner

Aber auch abseits des Corona-Themas erhitzen sich vor allem in der Eltern-Blase schnell die Gemüter: Was, ihr lasst euer Kind (kein) Fleisch essen? Was, euer Kind schläft mit drei Jahren immer noch bei euch im Bett? Was, euer Kind darf (keine) Süßigkeiten essen? Wählen Sie einfach aus, welche Aussage sie mehr triggert, multiplizieren sie ihr Erstaunen mit fünf und sie haben eine Vorstellung über den Gesichtsausdruck mancher Eltern auf dem Spielplatz oder am Tisch mit der Großfamilie. Die entspannteste Reaktion ist dann noch: "Naja, wenn ihr meint."

Solche Angriffe, Beurteilungen und Wertungen sind vor allem eines: übergriffig und nervend. Können wir die Entscheidungen von Menschen nicht auch einfach mal hinnehmen ohne sie direkt zu verurteilen? Selbst wenn ich persönlich meine Kinder anders erziehe, ernähre oder schlafen lasse - solange die Entscheidungen anderer sich nicht auf mich auswirken, es nicht strafbar ist oder sich sonst negativ auf unser gesellschaftliches Leben auswirkt, kann es mir doch vor allem eines sein: egal.

Spotten über alles und jeden

Diese Vorgehensweise spiegelt sich aber auch oft in der Politik. Annalena Baerbock und Christian Lindner sprechen Englisch ohne lässigen London-Akzent? Schrecklich, das hätten alle, die sich auf Twitter oder Facebook dazu äußern, selbstverständlich viel besser gemacht! In Millisekunden entstehen Memes, Vergleiche, Beleidigungen. Das muss nicht sein.

Dieser Text soll kein Plädoyer für eine prinzipielle Ist-mir-doch-egal-Mentalität sein. Das wäre für die gesellschaftliche Entwicklung fatal. Wir sollen und müssen uns austauschen, kritisieren, reiben - nur so kommen wir weiter.

Energie für die wirklich wichtigen Fragen

Aber wir müssen uns nicht über jede Kleinigkeit aufregen, echauffieren oder alles und vor allem nicht jeden und jede für sein oder ihr individuelles Verhalten verurteilen - vor allem nicht, wenn es uns gar nicht betrifft. Oder schlafen Sie regelmäßig im Bett der Eltern der Freunde ihrer Kinder?

Stattdessen könnten wir uns 2022 auf mehr Wertschätzung unserem Gegenüber fokussieren, ohne Neid. Wir können anerkennen, dass manche Dinge bei anderen gut laufen - und andere Sachen funktionieren so, wie wir selbst es machen. Oder sogar hier wie dort, weil es nicht immer nur den einen richtigen Weg gibt. Die so gewonnene Energie können wir investieren in die wirklich wichtigen und drängenden Fragen unserer Zeit: Bekämpfung der Corona-Pandemie, entschlossenes Handeln in der Klimakrise, Unterstützung von finanziell Schwachen. Es gibt viel zu tun, und das lässt sich gemeinsam angehen - ohne Verurteilungen.