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Politik

Historisches Urteil in Koblenz

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Maissun Melhem
13. Januar 2022

Dieser Prozess ist ein Meilenstein: Zum ersten Mal stand ein Täter des syrischen Terror-Regimes Assad vor Gericht und das Urteil enttäuscht die Erwartungen der vielfach traumatisierten Opfer nicht, meint Maissun Melhem.

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Der von Folter gezeichnete Rücken eines Mannes aus Syrien
Für solche Taten trägt immer jemand individuelle Schuld - und nicht allein ein "System"Bild: James Lawler Duggan/AFP

Wir Menschen lieben es, an Wunder zu glauben. An das biblische Damaskus-Erlebnis zum Beispiel, demzufolge ein strammer Verfolger der ersten Christen zu Paulus, dem Apostel der Völker wurde. Oder dass der Kuss eines Prinzen Schneewittchen vom Tod auferwecken kann. Und an den guten Kern selbst im bösesten Ungeheuer.

Im religiösen Kontext oder in Märchen ist solcher Wunderglaube völlig in Ordnung. Doch auf Wunder in den dunklen Kellern der Gefängnisse der skrupellosen Diktatur in Syrien zu hoffen, ist in keiner Weise nachvollziehbar. Und genauso wenig war daher das Argument der Verteidiger im Prozess in Koblenz nachvollziehbar: dass eine Verurteilung von Anwar Raslan das falsche Signal gegenüber potenziellen Deserteuren des Assad-Regimes sei.

Deutschland als symbolträchtiger Ort des Prozesses

Der Prozess ist die weltweit erste juristische Aufarbeitung des syrischen Foltersystems. Und bei Awar Raslan handelt nicht nur um einen kleinen Fisch im syrischen Terrorsystem: Der Oberst des Geheimdienstes war Leiter der Ermittlungsabteilung im berüchtigten Gefängnis Al-Khatib, in dem die Würde von Menschen bis heute mit Füßen getreten wird.

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DW-Redakteurin Maissun Melhem stammt aus Syrien

Für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 27-fachen Mord, zahlreiche schwere Körperverletzungen und mehrere Vergewaltigungen hat ihn das Gericht nun verurteilt. Mehr als 4000 Folteropfer soll es in seiner Amtszeit in Al-Khatib zwischen April 2011 und September 2012 - also in der Zeit der Massenproteste des Arabischen Frühlings in Syrien - gegeben haben, bevor er desertierte und zwei Jahre später nach Deutschland floh und einen Asylantrag stellte.

Ist es Zufall, dass die erste juristische Aufarbeitung von Gräueltaten der syrischen Diktatur ausgerechnet in dem Land stattfindet, das in seiner Geschichte unter zwei Diktaturen gelitten hat? Nein weder Zufall noch Wunder: Es liegt einfach daran, dass Deutschland das bevorzugte Fluchtziel vieler Syrer ist, die ihre Heimat aufgrund von Krieg und Unterdrückung verlassen mussten - oder die sich einfach ein besseres Leben erhoffen.

Deswegen ist hier die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass sich Opfer und Peiniger an der Kasse im Supermarkt, beim Abholen von Kindern an der Schule oder in der U-Bahn begegnen - so wie es ja auch bei Anwar Raslan der Fall war. Der Koblenzer Prozess war also nicht der letzte seiner Art in Deutschland - bereits kommende Woche beginnt ein weiteres Verfahren in Frankfurt.

Wo beginnt individuelle Schuld?

So widersinnig es sich anhört: Auch in einem totalitären Polizeistaat wie Syrien unter der Herrschaft Assads ist es nicht einfach, die individuelle Verantwortung des jeweiligen Täters festzustellen - auch wenn wir wissen, dass jedes Mitglied solcher Schreckenssysteme zumeist nur Befehlsempfänger ist , der macht, was ihm aufgetragen wird.

Die Verteidiger von Anwar Raslan betonten daher immer wieder, dieser sei gegen seinen Willen nur Mitläufer in einem mörderischen Regime gewesen. Und ein hartes Urteil gegen ihn werde andere Angehörige des syrischen Sicherheitsapparats davon abhalten, ebenfalls zu desertieren. Auf deren Informationen seien aber alle angewiesen, die das syrische Regime zur Rechenschaft ziehen wollen.

Das stimmt insofern, als die Bilder des syrischen Militärfotografen Caesar als zentrale Beweise für die systematische Folter von Oppositionellen in den syrischen Gefängnissen gelten. Doch im Gegensatz zu Caesar hat Anwar Raslan zur Aufklärung der Verbrechen des Assad-Regimes kaum beigetragen. Seine Verantwortung für die Verbrechen, für die er angeklagt war, konnte nur durch die Aussagen Dutzender Zeugen festgestellt werden, die trotz ihrer zumeist heftigen Traumatisierung die Last dieses Prozesses auf sich nahmen. Für sie ist deswegen auch das Urteil "lebenslange Haft" am wichtigsten: als ein Signal, dass es doch Gerechtigkeit in der Welt gibt.

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Maissun Melhem Leitende Redakteurin und Moderatorin@MaissunMelhem