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Politik

Grüner Aufbruch in die Mitte, endgültig

Thurau Jens Kommentarbild App
Jens Thurau
22. November 2020

Drei Tage lang haben die Grünen bei ihrem virtuellen Parteitag über ein neues Grundsatzprogramm debattiert und deutlich gemacht: Sie sehen sich als Regierungspartei. Mit allen Konsequenzen, meint Jens Thurau.

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Bundesdelegiertenkonferenz Bündnis 90/Die Grünen | Habeck & Baerbock, Bundesvorsitzende
Im analogen Wohnzimmer beim digitalen Parteitag: Robert Habeck und Annalena BaerbockBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Wenn sich Annalena Baerbock und Robert Habeck, die beiden Vorsitzenden der Grünen, an diesem Wochenende etwas vereinsamt vorgekommen sein sollten, dann haben sie das gut überspielt. Der Parteitag der Grünen fand komplett digital statt, nur die Parteispitze und wenige Journalisten verirrten sich ins Berliner Tempodrom, den Tagungsort, wenn man ihn so nennen kann. Die 800 Delegierten verfolgten das Treffen vom heimischen Sofa aus und nahmen per Videoschalte teil.

Klingt nicht gerade prickelnd, ist aber bei näherem Hinsehen auch eine Duftmarke, eine Ansage an die Konkurrenz: Was hat die CDU nicht alles an Verwirrung hervorgerufen mit ihren wechselnden Parteitagsplanungen und dem mehrfachen Verschieben des Treffens. Und die Grünen? Haben es einfach probiert mit dem Parteitag am Computer-Bildschirm, und siehe da: Es geht.

Die Grünen wollen zurück ins Rampenlicht

Das ist die zentrale Botschaft der Grünen an diesem Wochenende: Wir machen jetzt, wir waren lange in der Opposition, wir wollen jetzt die Seiten wechseln. Im nächsten September wird gewählt, die Grünen stehen in den Umfragen stabil bei 20 Prozent, obwohl auch sie in der Corona-Krise die öffentliche Aufmerksamkeit weitgehend der Bundesregierung überlassen mussten. Jetzt wollen die Grünen nur eines: Nichts mehr anbrennen lassen in den nächsten Monaten, den Zuspruch der Menschen ins Ziel retten - und dann regieren. Ob an der Seite der CDU oder (sehr viel unwahrscheinlicher) in einer grün-rot-roten Koalition, das wird man sehen. Aber scheitern wird an den Grünen weder das eine noch das andere, soviel steht fest.

Bundesdelegiertenkonferenz Bündnis 90/Die Grünen | Robert Habeck, Bundesvorsitzender
Zuschauen in der Sendezentrale: Grüner Parteichef Robert Habeck beim digitalen ParteitagBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Still und leise haben sie in ihrem Grundsatzprogramm Kompromisse gemacht, die die Partei früher über Monate zerrissen hätten. Zwei Beispiele: Die Grünen sagen nicht mehr grundsätzlich Nein zur Gentechnik, auch wenn sie skeptisch bleiben. Und sogar bei ihrem zentralen Thema, der Klimapolitik, fanden sie eine abgeschwächte Formulierung. Die trägt zwar der Forderung der Klimaaktivisten von Fridays for Future Rechnung, die Erderwärmung nicht über 1,5 Grad anwachsen zu lassen. Aber sie macht dennoch deutlich: Auch mit zwei Grad, der maximalen Erwärmung, die der Pariser Klimavertrag noch toleriert, müsse man wohl zufrieden sein.

Anders gesagt: Wir lassen uns durch Maximalforderungen nicht mehr den Verhandlungsspielraum nehmen. Schließlich werden die Grünen, wenn alles klappt, im September so stark sein wie noch nie, so mächtig mitregieren können, wie noch nie - aber eben nicht allein.

Ein Parteitag kampfloser Kompromisse

Dass solche Beschlüsse einfach so durchgehen auf einem Parteitag der Grünen, liegt an den vielen tausend jungen Leuten, die in den vergangenen Jahren beigetreten sind. Und die mit den erbitterten und ja tatsächlich oft absurden Grabenkämpfen der Vergangenheit - zwischen Fundis und Realos, zwischen Träumern und Pragmatikern, zwischen links und rechts - nichts mehr anfangen können.

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DW-Hauptstadtkorrespondent Jens Thurau

Keine Absage an die Industrie, keine lauten Forderungen nach Abschaffung des Autos. Stattdessen noch ein weiterer Schritt zu auf Gesellschaftsgruppen, die die Grünen noch skeptisch betrachten: "Wir machen mit unserem neuen Grundsatzprogramm ein Angebot für Sie, für Dich, für uns alle", ruft Baerbock. Das klingt fast schon wie eine Regierungserklärung. Und Habeck hat recht, wenn er sagt, eine der ersten und wichtigsten Aufgaben wäre es, in einer zerrissenen Gesellschaft überhaupt wieder eine gemeinsame Sprache zu finden, Ziele zu definieren, auf die sich möglichst viele Menschen einigen können.

Es ist schon verblüffend, wie lange die neue Grünen-Führung, seit fast zwei Jahren nämlich, so gut wie keine politischen Fehler macht. Während die CDU im offenen Streit um die Nachfolge an der Parteispitze und damit wohl auch im Kanzleramt ringt, bleiben die Grünen geeint. Unvorstellbar in früheren Zeiten. Aber hier zeigt sich auch, dass ein Grundsatzprogramm das eine ist, ein Wahljahr aber das andere. Die Grünen werden bald sagen müssen, wer für sie ganz vorne steht: Der im Volk bekanntere und wohl auch populärere Robert Habeck, oder die innerhalb der Partei geliebte Annalena Baerbock. Spätestens, wenn die Grünen auch diese Frage klären, ohne sich zu zerlegen, stehen ihnen alle Türen offen.

Grüne müssen Krisenmanagement können

Der wesentliche Unterscheid zur ersten Regierungsbeteiligung der Grünen, an der Seite der SPD zwischen 1998 und 2005, wäre dann: Diesmal machen die Grünen ein Angebot an alle, sie sehen sich nicht mehr in der Rolle einer eher linken Avantgarde, die aus einer Minderheitenposition heraus handeln muss. Tatsächlich regieren sie jetzt in vielen Bundesländern mit, haben kompetente Experten für alle Politikfelder im Bundestag. Und sie haben das sichere Gefühl, dass viele der aktuellen Probleme ihre grundsätzliche Sicht auf die Dinge bestätigen: Nach Corona wird die Aufgabe, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur nachhaltiger zu gestalten, dringender denn je.

Die Grünen im Wahlkampf

Und wenn es denn so kommt, dann wird es eben doch auch ein Fegefeuer: In Zeiten von Nationalismus und Populismus, von Pandemien und einem immer schärferen Gegensatz von Arm und Reich, in Zeiten einer zerbröselnden Europäischen Union müssen sich auch die Grünen wohl darauf einstellen, dass Regieren heißt: Krisenmanagement, Nerven behalten. Es sieht so aus, als wissen sie das an der Parteispitze. Ob es wirklich gelingt, wird sich zeigen. Aber größere Chancen, das tatsächlich hinzukriegen, hat die frühere "Anti-Parteien-Partei" noch nie gehabt.