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Politik

Eine Frage der Solidarität

Deutsche Welle Brockmann, Anja Portrait
Anja Brockmann
30. Dezember 2020

Kaum hat Deutschland mit der Corona-Impfung begonnen, ist eine Debatte entbrannt über mögliche Privilegien für Geimpfte. Politik und Gesellschaft sind darauf nicht gut genug vorbereitet, findet Anja Brockmann.

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Rotterdam | Impfstoff Zulassung | Pfizer und BioNTech
Bild: Robbin Utrecht/picture alliance

Die Deutschen sind pandemiemüde. Nach fast einem Jahr mit Einschränkungen sehnen sich viele nach Normalität. Umso größer sind die Erwartungen an die Corona-Schutzimpfung. Erwartungen, die der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn zunächst dämpfte.​​​​ Denn es wird wohl mindestens bis zum Herbst 2021 dauern, bevor hierzulande eine Herdenimmunität erreicht ist. Spahn appellierte an die Solidarität Geimpftermit den noch nicht Geimpften. Der Kitt dieser Gesellschaft sei gegenseitige Rücksicht, ist Spahn überzeugt.

Doch dass dieser Kitt brüchig ist, hat die Pandemie bereits gezeigt. Zum Beispiel während des sogenannten Lockdown light in Deutschland, als zwar Kontaktreduzierung das Gebot der Stunde war, die Einkaufsmeilen aber überquollen. In den dichtgedrängten Schlangen vor den Glühwein-Theken der Restaurants standen bei weitem nicht nur Corona-Leugner.

Der Mensch ist eben ein soziales Wesen. Und das ergreift wohl nahezu jede Chance auf ein geselliges Miteinander, selbst wenn es andere und sogar sich selbst damit in Gefahr bringt. Warum soll das bei Geimpften anders sein? Erst recht, wenn die Selbstgefährdung entfällt? Da dürfte ein bloßer Appell an die Solidarität verpuffen. Zumal unklar ist, was Solidarität konkret bedeutet in einer Gesellschaft, die auf Individualismus setzt, und in einem Wirtschaftssystem, das von Wachstum lebt und nicht von Verzicht.

Einnahmen zum Abbau des Corona-Schuldenbergs

In Deutschland arbeiten fünfeinhalb Millionen Menschen im Gesundheitsbereich. Sie werden zurecht früher einen Impftermin bekommen als andere. Wäre es unsolidarisch, wenn manche Fluggesellschaften sie bevorzugt transportieren? Hat nicht zum Beispiel das Krankenhauspersonal es besonders verdient, sich nach diesem erschöpfenden Jahr für zwei Wochen im Urlaub zu erholen? Und wäre es nicht gelebte europäische Solidarität, wenn es ein bisschen Geld auf die Inseln im Mittelmeer bringt, die extrem vom Tourismus abhängig sind und deren Bevölkerung zu verarmen droht?

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DW-Redakteurin Anja BrockmannBild: DW/B. Geilert

Ein Viertel der Menschen in Deutschland, mehr als 20 Millionen, ist älter als 65 und wird ebenso bevorzugt geimpft. Viele von ihnen sind fit und rüstig, Bewegung, Urlaub und Kultur haben für sie statistisch messbar in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Wäre es unsolidarisch, wenn sie den Gaststätten und Hotels, den Theatern und den Sportvereinen wieder Einnahmen verschaffen und damit den Steuerzahler entlasten würden, der derzeit die Umsatzeinbußen ganzer Branchen im Lockdown finanziert und der jungen Generation einen Schuldenberg hinterlässt?

Privilegien für geimpfte Touristen?

Auf all diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Aber die Politik muss zumindest Lösungen anbieten. Sie muss zum Beispiel abwägen, welches Gut schwerer wiegt - die unternehmerische Freiheit oder das Verbot der Diskriminierung. Und die deutsche Politik darf bei ihren Überlegungen nicht an der Landesgrenze Halt machen. Es wird eine ganze Reihe von Ländern geben, die - allein schon wegen ihrer geringeren Bevölkerung - viel schneller durchgeimpft sein werden als Deutschland mit seinen 83 Millionen Bürgerinnen und Bürgern. Israel macht es gerade vor, aber auch Großbritannien, Bahrain, und bald werden die kleineren Staaten in Europa Deutschland beim Impfstatus überholen. Sie werden ihre Wirtschaft und Mobilität schneller hochfahren, zum Nachteil des deutschen Wirtschaftsstandorts.

Wenn Deutschland den Geimpften hierzulande keine Privilegien gewährt, wie hält es das Land dann mit Geimpften anderer Staaten? Die deutsche Wirtschaft wird kaum zusehen wollen, wie die ihre Geschäfts- und Urlaubsreisen an Deutschland vorbei machen. Die Lobbyisten werden im Kanzleramt Sturm laufen. Doch eine Bevorzugung von geimpften Ausländern wird kaum durchsetzbar sein, so lange deutsche Bürgerinnen und Bürger aus solidarischen Gründen Verzicht üben sollen.

Belastungsprobe für viele Freundschaften

Aber nicht nur die Politik muss Antworten finden. Auch jede einzelne Familie in Deutschland. Denn in jeder Familie wird es bald jemanden geben, der geimpft ist, und andere, die es noch nicht sind. Ebenso im Freundeskreis. Es wäre weltfremd zu glauben, dass private Treffen unter Geimpften noch streng nach Corona-Auflagen stattfinden werden. Wen also lade ich zum Essen ein? Mit wem spiele ich lieber Karten - mit den Geimpften oder den Ungeimpften?

Für viele Freundschaften könnte das zur Belastungsprobe werden. Und auch für die Gesellschaft insgesamt. Denn vorübergehend wird es tatsächlich eine Spaltung geben in die Gruppe der Geimpften und die der Imfpwilligen. Das muss Politik offen ansprechen und Brücken bauen, um das Feld nicht den Populisten zu überlassen. Gerade im Jahr der Bundestagswahl und zum Ende der Kanzlerschaft Merkels wäre das fatal.