Mein Sommerlieblingsort: der Baum auf dem Hügel
Mächtig steht sie da, die alte Stieleiche, und schaut von ihrem Hügel ins Land. Dort kommt mir so mancher unverhoffte Gedanke.
Da steht er, mein Baum – meine Eiche. Eigentlich ist sie gar nicht meine Eiche, weil sie mir überhaupt nicht gehört. Im Herzen aber wird sie immer mein Baum sein. Wie ein Riese, ein Überlebender aus längst vergangener Zeit kommt er mir vor. Wie ein einsamer Wächter steht er auf seinem Hügel, wenige hundert Meter unterhalb des Dorfes. Schon von weitem ist er zu sehen, eine Landmarke Landmarke, -n (f.) weithin sichtbarer Punkt, der zur Navigation verwendet werden kann , ein Orientierungspunkt. Rund 200 Jahre mag er inzwischen zählen. Er steht dort wohl nur, weil zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als er noch ein Sprössling Sprössling, -e (m.) Nachkomme, Kind; hier: junger, kleiner Baum war, Rehe vergaßen, mit ihm ihren Hunger zu stillen.
Standpunkt mit weitem Blick
Auf einem der südlichsten Höhenausläufer des Oberbergischen Kreises Oberbergischer Kreis Bezirk in Nordrhein-Westfalen steht mein Baum. Bald kommt die Grenze zu Rheinland-Pfalz. Schemenhaft deutet sich einige Kilometer Luftlinie weiter das tief einschneidende Tal der Sieg Sieg Fluss in Nordrhein-Westfalen an, bevor die Berge ansteigen, hinauf zum hohen Westerwald Westerwald Mittelgebirge in Deutschland . Dort hat mein Baum also seinen unverrückbaren unverrückbar unveränderlich Standpunkt mit Panoramablick. Von dort sieht er gern den Frühling weit übers Land schreiten, der ihn regelmäßig aus eisiger Wintermacht befreit.
Dort lauscht er den vielen Geschichten, die ihm laue Sommerwinde zuflüstern. Dort stöhnt er im Herbst unter der brachialen brachial mit roher Körperkraft Gewalt schwerer Stürme, die immer wieder versuchen, ihn zu bezwingen jemanden/etwas bezwingen jemanden/ etwas besiegen . Schadlos blieb er dabei keineswegs. Drei Jahrzehnte ist es her, dass ein Sommer-Orkan einen seiner drei vertikalen vertikal senkrecht; nach oben zeigend Hauptäste abriss. Seitdem wird er statisch ungleich belastet. Gefährlich! Deutlich sind seine Narben zu sehen – und manche werden nie mehr verschwinden. Doch wie es scheint, kann ihn nichts umhauen, meinen Baum. Ob er wohl noch in die Unendlichkeit wächst, wie ich als Kind dachte?
Menschenfreundlicher Ort
Ein guter Freund aus längst vergangenen Tagen ist er. Und wie es scheint, kann der Zahn der Zeit Der Zahn der Zeit (m. nur Singular) Redewendung: die zerstörende Kraft des Alters; der Verschleiß auch seinen Wurzeln nichts anhaben. Getränkt wird er aus geheimnisvollen, tief verborgenen verborgen versteckt Quellen. Generation um Generation suchte unter seinem Kronendach Kronendach, -dächer (n.) das dichte Blattwerk eines Baumes, das wie ein Schirm wirkt Schutz und Schatten. Bauern machten Pause bei der mühsamen mühsam anstrengend; mit viel Mühe Feldarbeit, Familien ein Picknick. Und bis vor einigen Jahren wurde hier in sicherem Abstand traditionell das Osterfeuer entzündet.
Mein Baum hat erlebt, wie schnell Menschen kommen. Er weiß, wie schnell sie selbst und ihre Pläne von den Winden der Zeit verweht werden. Und jeder, der sich je zu ihm gesellte, fand hier einen guten Ort. Tiere auch – Kühe, Arbeitsochsen, Ackergäule, das Wild. Und es hat ihn vermutlich nie gestört, wenn sich auch mal eine Sau an ihm kratzte. Am liebsten sitze ich im Sommer sinnierend sinnieren nachdenken in einer der Mulden zwischen seinen Wurzelausläufern. Dann kommt er mir vor wie ein weiser Greis; statt Falten hat er eine tiefe Rinde. Dann stelle ich mir vor, was er so alles gesehen und erlebt hat, mein Baum: Er kennt Kriege und Sorgen, Nöte, Dürren und manch andere bittere Plage Plage,-n (f.) etwas Schlimmes, das für eine bestimmte Zeit Menschen leiden lässt (z.B. eine Naturkatastrophe, eine Epidemie, etc.) . Aber auch Friedenszeiten, goldene Ährenfelder, reiche Ernten, poussierende poussieren veraltet für: flirten Liebespaare, Kinder, die ausgelassen und heiter in seinen Ästen klettern – und so manchen schrägen Vogel schräger Vogel/ schräge Vögel (m.) umgangssprachlich: ein seltsamer Mensch , der ihn oben mit zwei Flügeln oder unten auf zwei Beinen umkreiste.
Schweigend mitteilen
Heute, in einer Zeit, in der manche glauben, immer mehr über das geheime Leben der Bäume und deren Kommunikation herauszufinden, steht meine Eiche allerdings noch immer stumm und stoisch stoisch nicht aus der Ruhe zu bringen auf ihrem Hügel. Schade, dass sie kein Mensch ist, denke ich. Denn wenn mein Baum ein Mensch wäre, würde ich ihn garantiert um seinen Rat für unsere vielschichtige, verwirrende und verworrene Zeit fragen.
Aber halt! Vielleicht gibt er mir ja doch so manchen Rat fürs Leben. Denn wie mir scheint, ist es entscheidend, einen stabilen Standpunkt zu haben und mit starken Wurzeln festen Grund zu greifen. Wurzeln, die außerdem nach gutem Wasser suchen – jenem Wasser, das Leben garantiert, dessen Kraft den Durst stillt, damit gute Früchte reifen können. Früchte, die einem selbst und anderen zugute kommen jemandem/etwas zugute|kommen, etwas kommt jemandem/etwas zugute für jemanden oder etwas nützlich sein .
Ein vorübergehender Abschied
Und während an diesem Sommerabend laue Sommerwinde noch einige verirrte Schäfchenwolken heim ins Dunkel treiben, lasse ich ihn für diesmal zurück – meinen schweigsamen, aber dennoch so mitteilsamen mitteilsam gesprächig; so, dass jemand viel erzählt Baum auf dem Hügel.
Mein Sommerlieblingsort: der Baum auf dem Hügel
Landmarke, -n (f.) — weithin sichtbarer Punkt, der zur Navigation verwendet werden kann
Sprössling, -e (m.) — Nachkomme, Kind; hier: junger, kleiner Baum
Oberbergischer Kreis — Bezirk in Nordrhein-Westfalen
Sieg — Fluss in Nordrhein-Westfalen
Westerwald — Mittelgebirge in Deutschland
unverrückbar — unveränderlich
brachial — mit roher Körperkraft
jemanden/etwas bezwingen — jemanden/ etwas besiegen
vertikal — senkrecht; nach oben zeigend
Der Zahn der Zeit (m. nur Singular) — Redewendung: die zerstörende Kraft des Alters; der Verschleiß
verborgen — versteckt
Kronendach, -dächer (n.) — das dichte Blattwerk eines Baumes, das wie ein Schirm wirkt
mühsam — anstrengend; mit viel Mühe
sinnieren — nachdenken
Plage,-n (f.) — etwas Schlimmes, das für eine bestimmte Zeit Menschen leiden lässt (z.B. eine Naturkatastrophe, eine Epidemie, etc.)
poussieren — veraltet für: flirten
schräger Vogel/ schräge Vögel (m.) — umgangssprachlich: ein seltsamer Mensch
stoisch — nicht aus der Ruhe zu bringen
jemandem/etwas zugute|kommen, etwas kommt jemandem/etwas zugute — für jemanden oder etwas nützlich sein
mitteilsam — gesprächig; so, dass jemand viel erzählt