1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Mein Europa: Die Welt anders erzählen

Stanislaw Strasburger
4. Juni 2021

Immer mehr Menschen aus Indien zieht es nach Portugal. Ihre Geschichten deuten auf einen neuen Gründungsmythos hin, meint der Schriftsteller Stanisław Strasburger.

https://p.dw.com/p/3uNzS
Stanislaw Strasburger
Stanisław Strasburger: Der Gründungsmythos der InderInnen in Europa dient nicht dazu, Imperialismus schönzuredenBild: Mathias Bothor

Frühling 2021, Albufeira, Südportugal. Ich führe meine Recherche über migrantische UnternehmerInnen in Zeiten von COVID-19 fort. Mein Fokus liegt auf MigrantInnen vom indischen Subkontinent.

Ihre Präsenz ist unübersehbar. Stellenweise habe ich sogar den Eindruck, in Albufeira gibt es mehr Gelegenheiten, indisch zu essen als portugiesisch. Und für jeden Geldbeutel ist etwas dabei: Von Restaurants gehobener Klasse über einfache Imbisse bis hin zu kleinen Supermärkten, in denen im Hinterraum in der Region erzeugte Hausmannskost frisch zubereitet wird.

Ich spreche aber nicht nur mit GastronomInnen, sondern auch mit ElektroladenbesitzerInnen, selbstständigen LandarbeiterInnen und großen InvestorInnen, die Hotels und Ackerland kaufen. Genaue Angaben über die Zahl der InderInnen in Albufeira gibt es nicht. Im Gurudwara, dem einzigen Tempel der Sikhs außerhalb von Lissabon, sagt man mir, es mögen sogar 5000 Menschen sein.

Büste von Mahatma Gandhi vom Bildhauer Ram Vanaji Sutar
Die Büste von Mahatma Gandhi in Albufeira wurde im Herbst 2020 feierlich eingeweihtBild: Stanisław Strasburger

Das wäre jeder fünfte Mensch in Albufeira! Auch die Büste von Mahatma Gandhi, die vergangenen Herbst feierlich eingeweiht wurde, zeugt von der besonderen Beziehung der Stadt zu seinen indischen MitbürgerInnen.

Der neue Glanz

Einer der Investoren ist Firoz. Vor kurzem hat er Anteile eines kommerziellen Zentrums in einem nahezu ausgestorbenen Hochhaus gekauft. Er ist dabei, Co-Working-Büros aufzumachen, kleine Ladenlokale zum Vermieten anzubieten und mehrere Gastronomiebetriebe zu eröffnen. Einen halben Tag lang begleite ich ihn bei seinen Tätigkeiten, treffe seine MitarbeiterInnen und GeschäftspartnerInnen.

"Dieses Hochhaus war früher voller Leben", erzählt mir Firoz. "Restaurants, Boutiquen, ein Kino und eine beliebte Disko. Sowohl Touristen als auch Einheimische kamen her. Heute konzentriert sich der Tourismus vor allem auf die Altstadt. Ich will den Einwohnern des Viertels den Bau in neuem Glanz zurückgeben."

Firoz hat große Pläne. Auf seinem Grundstück, einige Autominuten weiter im Landesinneren, will er Biogemüse in Gewächshäusern züchten. Speziell geht es dabei um Zutaten für die indische Küche. Die Baupläne sind fertig, die importierten Samen liegen bereit. Dabei pflegt er beispielhafte Beziehungen zu seinen Nachbarn: Auf dem einen Hof kauft er Eier, mit einem anderen vereinbart er die gemeinsame Nutzung einer Wasserentnahmestelle. Natürlich spricht er fließend Portugiesisch.

Als ich ihn nach seiner Vergangenheit frage, erzählt er eine spektakuläre Geschichte über seine Odyssee quer durch Europa: "Ich bin mit meinen letzten 100 US-Dollar aus Georgien nach Warschau gekommen. In Polen gibt es viele Inder. Aber ich war nicht überzeugt. Ich kaufte mir ein Zugticket nach Berlin.

Was ich nicht wusste: In Deutschland steckst du schnell in einer Sackgasse. Entweder lebst du von Almosen des Staates oder du musst Currys mit sehr viel Sahne servieren, damit die Leute in deinem Restaurant essen. Im Gegensatz zu Deutschland macht es Portugal Unternehmern einfach. Ich bin jetzt seit sechs Jahren hier."

Die Geschichten hinter den Geschichten

Gerade der Süden Portugals ist aufgrund der Corona-Pandemie wirtschaftlich schwer angeschlagen. Die Touristen blieben größtenteils aus, viele Unternehmen gingen pleite. Doch wo die anderen schließen, machen Migranten gerade von außerhalb der EU auf. Wie das geht, möchte ich von Firoz wissen.

Portgual Albufeira Leerer Strand
Ein Strand beim südportugiesischen Albufeira im Mai 2020 - wegen Corona ohne Touristen Bild: imago images/TT/J. Henriksson

"Egal, was du oder ich über COVID-19 denken: Das Virus ist in unseren Köpfen. Und dort wird es jahrelang bleiben. Das ist die Realität, mit der ich als Unternehmer zu tun habe. Ich versuche nicht, das infrage zu stellen oder zu ändern. Ich richte mich danach, wie meine Kunden sind und was sie brauchen."

Ein Restaurantbesitzer und Geschäftspartner von Firoz spricht klare Worte: "Wenn ich mein Unternehmen so leiten würde, dass ich wie unsere Politiker ein Jahr nach dem Ausbruch der Krise immer noch überrascht wäre, wenn die Zahlen mal wieder nach oben gehen, wäre ich längst draußen. Ich kann nicht verstehen, wieso wir weiterhin Bilder von Matratzen auf dem Fußboden einer Turnhalle in Portimao sehen. Als ob man in gut einem Jahr nicht ein paar Krankenhäuser fertigstellen könnte. Die wären doch auch so nicht fehl am Platz. Wir brauchen keine neuen Einschränkungen, sondern ein neues Gesundheitssystem. In Deutschland ist das ähnlich, oder?"

Unter meinen unternehmerischen GesprächspartnerInnen aus Indien, aber auch aus Senegal, Brasilien, Angola und weiteren Ländern, herrscht große Skepsis gegenüber dem aktuellen Krisenmanagement europäischer Staaten. Das ändern auch die zum Teil schockierenden Medienberichte aus ihren Ursprungsländern nicht. Viele, die pendeln und sich selbst von hier und dort ein Bild machen können, berichten von Enttäuschung, Frust und Resignation, die sie gerade in Europa vorfinden. Das Leben spiele sich zunehmend woanders ab, sagen sie - gesellschaftlich und wirtschaftlich.

Ein neuer alter Mythos

Ob die Geschichten wahr sind, die mir erzählt werden, prüfe ich nicht bis ins kleinste Detail nach. Und das ist nicht zwangsläufig auf die knappen finanziellen Ressourcen zurückzuführen, die mir als freiberuflichem Autor zur Verfügung stehen. Die Geschichten selbst sind bezeichnend.

Sie deuten auf einen neuen Gründungsmythos hin: Man erschließt sich eine neue Welt, berichtet über ihren Niedergang und betrachtet ihn als seine persönliche Chance. Zu diesem Mythos gehört manchmal auch, die eigene Biographie neu zu erfinden. Und ja, dieser Mythos erinnert mich an etwas. Es ist die Erzählung der Kolonialherren. Nur diesmal ist Europa das Ziel.

Offenkundig dient dieser Mythos jedoch nicht wie damals dazu, Imperialismus schönzureden. Hinter meinen GesprächspartnerInnen verstecken sich keine militaristischen Staaten mit Armeen und territorialen Ambitionen. Vielmehr hilft dieser Mythos dabei, sich selbst ein Image zu verschaffen, das letztlich dem Wohl der lokalen Gemeinschaft dient - und gleichzeitig dem des eigenen Unternehmens. Ich persönlich kann gut damit leben. Zumal ich ein großer Fan indischer Kochkünste bin. Aber nicht unbedingt mit Sahne.

Stanisław (Stan) Strasburger ist Schriftsteller und Kulturmanager. Seine Schwerpunkte sind Erinnerung und Mobilität, er sucht nach der EUtopie und glaubt an Achtsamkeit. Sein aktueller Roman "Der Geschichtenhändler" erschien 2018 auf Deutsch (2009 auf Polnisch und 2014 auf Arabisch). Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. Zudem ist er Ratsmitglied des Vereins "Humanismo Solidario".

 

Die Recherche zu diesem Text konnte dank einer Förderung des Berliner Senats finanziert werden.

Stanislaw Strasburger Kolumnist HA Programs for Europe, Autor "Mein Europa"