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Gesellschaft

Der Tod und die Schuldgefühle

Stanislaw Strasburger
26. Februar 2021

Die Logik der Lockdowns verwickelt uns in ein Netzwerk aus Schuldgefühlen, Verdrängungen und illusorischem Glauben, meint der Schriftsteller Stanisław Strasburger.

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Stanislaw Strasburger
Stanisław Strasburger: Die Logik des Lockdowns ist Verheißung und Fluch zugleichBild: Mathias Bothor

"Im Zustand des vergeblichen Wartens kann der Mensch Hoffnung und Geduld verlieren, kurzfristig oder dauerhaft resignieren, das Leben satthaben", lese ich Mitte Januar in einer E-Mail. Meine 82-jährige Freundin und Verfasserin der Nachricht ist mir ans Herz gewachsen. Annelie habe ich immer als eine warmherzige, weise Frau erlebt, stets bereit, Bedürftigen beizustehen, ein wilder Geist und eine lebendige Seele, geschmückt mit krausem Haar, das ihr verspielt ins Gesicht fällt.

Nachdem sie nun in der E-Mail berichtet, wie sie sich durch "das kleine Virus mit der großen Wirkung zwangsweise in einen besonderen 'Ruhezustand' mit Ausgangssperre versetzt" fühle, schreibt sie: "Wo ein Anfang ist, gibt es ein Ende. (...) Sackgassen, Einbahnstraßen und Hamsterräder tragen viel zu jener Erschöpfung bei, die uns zu müde macht, um wach den Abschied vom Leben anzunehmen, (…) Lebenssattheit zu genießen, Lebensmüdigkeit zu erlauben und in Frieden mit sich selbst zu gehen."

Was möchte sie mir damit sagen? Schlimme Gedanken gehen mir plötzlich durch den Kopf. Wie soll ich reagieren: ihre Freunde vor Ort aufsuchen? Professionelle Hilfe konsultieren? Oder sie anrufen und ein Gespräch wagen? Ich spüre Angst um sie, aber auch um mich. Wenn ich auf die Nachricht 'falsch' reagiere, würde ich mich möglicherweise für den Tod eines mir nahestehenden Menschen (mit)verantwortlich fühlen. Aber, andersherum, bin ich bereit, die Entscheidung, die ich hinter der E-Mail befürchte, hinzunehmen? Eine Riesen-Verantwortung drückt mich sprichwörtlich zu Boden.

Der Sinn und die Dienstleistung

Als Mitglieder wohlhabender Gesellschaften des globalen Westens haben wir komplexe Systeme geschaffen, die uns dabei helfen sollen, dieser Art von Verantwortung zu entkommen. Henning Scherf, ehemaliger Bürgermeister von Bremen, der sich heute für einen besseren Umgang mit dem Sterben engagiert, schreibt bereits im Jahr 2016 über die Vermarktung des letzten Lebensabschnitts im Rahmen eines Dienstleistungssektors, der den Tod in eine Tabuzone verschiebe.

Symbolbild | Sterbehilfe
"Macht es tatsächlich Sinn, das Sterben als eine Abfolge von Ursache und Wirkung zu verstehen?"Bild: picture-alliance/dpa/O. Berg

So verkämen unsere Krankenhäuser zu Sterbehäusern und die völlig überlastete Innere Medizin fungiere als Versorgungsplattform Gebrechlicher und Sterbender, eingebettet in einen sich verselbstständigenden Markt mit Riesen-Umsätzen. Dieses System erfülle jedoch eine gesellschaftliche Funktion: Der Tod soll wegrationalisiert und unsichtbar gemacht, wir sollen von Schuld und Verantwortung befreit werden.

Mehr noch. Unsere Verdrängungsstrategien und der wuchernde Pflegesektor scheinen mir mit dem Glauben gepaart zu sein, man sterbe immer an etwas. Der Tod habe einen Grund. Und durch ein entsprechendes menschliches Handeln könne er vermieden werden. Aber macht es tatsächlich Sinn, das Sterben als eine Abfolge von Ursache und Wirkung zu verstehen? Und ist diese Ursache etwas, was man bekämpfen und somit den Tod unendlich aufschieben kann?

Die Routinen

Die E-Mail von Annelie erreicht mich an der Algarve zur gleichen Zeit, als dort die Zahl der positiv auf COVID getesteten Menschen in die Höhe geht. Mittlerweile muten die Reaktionen in Europa routiniert an: Die Regierung in Lissabon verschärft die einschränkenden Maßnahmen.

Doch auch die Logik der Lockdowns verwickelt uns in ein komplexes Netzwerk aus Schuldgefühlen, Verdrängungen und illusorischem Glauben. Diese Logik ist Verheißung und Fluch zugleich. Ein vermeintlich allumfassendes Regelwerk verspricht die Erlösung von der Last der Verantwortung. Gleichzeitig lässt es uns aber an dem Bewusstsein verzweifeln, dass die Realität immer wieder den Regeln entweicht. Im ewigen 'Anpassungsprozess' verkomplizieren sich die Regeln so sehr, dass am Ende kaum jemand weiß, wie man sich 'richtig' verhält. Statt Entlastung kommt eine weitere Belastung hinzu - der Frust des Scheiterns.

Das ist nicht unbedenklich. In individualisierten Gesellschaften, in denen die Selbstbestimmung ein hohes Gut ist, unterwandern die Rückgriffe auf Lockdowns den Konsens, der nicht nur diese Regulierungen selbst, sondern gleich auch unsere gesamte gesellschaftspolitische Ordnung mitträgt. Der problematische Umgang mit dem Tod, der dahinter steckt, kommt kaum zur Sprache.

Symbolbild Kerzen
"Wo ein Anfang ist, gibt es ein Ende..."Bild: picture-alliance/Panther Media/F. Salimi

Dabei ist es eine Illusion, zu glauben, dass Individuen und Gemeinschaften primär die Aufgabe hätten, andere vor dem Tod zu schützen. Wenn das Sterben nicht als ein Teil des Lebens gesehen wird, sondern als ein menschliches Versagen, ist ein Scheitern vorprogrammiert. Schnell werden wir unsere Ressourcen erschöpfen. Wir werden auch Erwartungen wecken, die nicht erfüllt werden können: Jeder einzelne Tod wird die Frage nach einem Schuldigen aufwerfen. Als Individuen und Gesellschaften wird uns diese Last zu Boden drücken. Wir werden zu einer einfachen Beute für all diejenigen, die vorgaukeln, sie würden uns wie fürsorgliche Hirten aus der Sackgasse hinausführen und von Angst und Frust befreien.

Eine Botschaft für uns alle

So banal es klingen mag: Wir verfügen über begrenzte Ressourcen und sind alle sterblich. Daran hat niemand Schuld! So wie wir mühsam lernen, dass Selbsttod nicht strafrechtlich relevant ist (eben kein Selbst-Mord ist), müssten wir uns damit anfreunden, dass der Tod auch mal 'altersbedingt' kommt, ja sogar 'natürlich' ist. Unabhängig davon, welche Infekte wir im menschlichen Körper testen können und allen sich verselbstständigenden Pflege-Systemen zum Trotz.

Stanisław Strasburger ist Schriftsteller und Kulturmanager. Sein aktueller Roman "Der Geschichtenhändler" erschien 2018 auf Deutsch (2009 auf Polnisch und 2014 auf Arabisch). Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. Zudem ist er Ratsmitglied des Vereins "Humanismo Solidario".

Stanislaw Strasburger Kolumnist HA Programs for Europe, Autor "Mein Europa"