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PolitikEuropa

Den korrupten Eliten die Stirn bieten

Gudrun Steinacker
24. Juli 2020

Die Mitgliedschaft des Westbalkans ist seit 2003 offizielle EU-Politik. Deutschland befürwortet den Erweiterungsprozess. Doch wo steht man heute, fast zwanzig Jahre nach Thessaloniki und in Zeiten der Corona Pandemie?

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Deutschland Westbalkan-Gipfel
Westbalkan-Gipfel in Berlin (29.04.2019) mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel MacronBild: picture-alliance/dpa/M. Sohn

Montenegro und Serbien befinden sich in Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Im März wurde der Beginn der Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien beschlossen. Bosnien hat einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt, jeglicher Fortschritt im Kosovo wird von Serbien blockiert. Dies ist die eine Seite des Beitrittsprozesses. Aber wie steht es um die vielbeschworenen Werte: Demokratie, Rechsstaat und nachhaltige Entwicklung in der Praxis?

Es gab "Fortschritte" seit 1989, wenn auch verzögert durch die Kriege beim Zerfall Jugoslawiens. Mit Ausnahme des Kosovo gibt es für die "Westbalkan-Sechs" Reisefreiheit, die viele nutzen, um in Richtung Westen zu wandern. In den Supermarktketten, viele davon in deutscher Hand, gibt es vor allem Importwaren und kaum einheimische Produkte zu kaufen. Korrupte Großbauprojekte und der Bau kleiner Wasserkraftwerke, Abholzung der Wälder, Landraub und unkontrollierte Tourismusentwicklung fügen der einmaligen Natur großen Schaden zu. Bildungs- und Gesundheitswesen verharren auf niedrigem Niveau, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Ohne Überweisungen aus dem Ausland und einem hohen informellen Sektor könnten viele nicht überleben. Es ist an der Zeit einzugestehen, dass die neoliberale Transformation auf dem Balkan gescheitert ist.

Die niedrige Wahlbeteiligung in Serbien, Kroatien und Nordmazedonien bringt ein tiefgehendes Misstrauen gegenüber der Demokratie zum Ausdruck. Demonstrationen in Belgrad lassen den "Glanz" des Wahlsiegs der Regierunspartei von Präsident Aleksandar Vučić verblassen.

Gudrun Steinacker
Gudrun Steinacker war deutsche Botschafterin in Nordmazedonien und MontenegroBild: DW/P. Stojanovski

Nordmazedonien steht nach einem schmutzigen Wahlkampf vor einer fast unmöglichen Regierungsbildung. Die ehemalige Hoffnungsträgerin und Sonderstaatsanwältin Katica Janeva wurde wegen Korruption verurteilt. Der ehemalige Geheimdienstchef  und Cousin von Ex-Regierungschef Gruevski, Sašo Mijalkov, der einst gefürchtete Capo di Capi und einer der reichsten Unternehmer, stolziert durch Skopje. Nikola Gruevski selber genießt sein Vermögen im Budapester Exil.

Bosnien ist ein unregierbares Land, in denen die Eliten mit Kleptokraten wie Milorad Dodik und Bakir Izetbegović an der Spitze die Ressourcen unter sich aufteilen.  Albanien und Kosovo befinden sich im Dauerkrisenmodus. Der gewählte kosovarische Regierungschef Albin Kurti wurde mit einer US-Intrige gestürzt, Kosovos Präsident Hashim Thaci steht vor einer Anklage in Den Haag wegen Kriegsverbrechen, was der albanische Ministerpräsident Edi Rama als Angriff auf alle Albaner bezeichnet. Das kleine Montenegro, in dem im September gewählt wird, ist durch einen absurden Streit um das Religionsgesetz zwischen der ultrareaktionären serbisch-orthodoxen Kirche und der Clique des Langzeitherrschers und Präsidenten Milo Đukanović gespalten.

Wen wundert es, dass die Milliarden von EU, EBRD, Weltbank, IWF und anderen Organisationen versickern?

Je nach Ansicht haben sich nach 1989 hybride Demokratien, Kleptokratien oder Mafiastaaten etabliert. Der serbischstämmige Ungleichheitsforscher Branko Milanović schrieb in seinem Blog von "Mehrparteien-Kleptokratien"; der Politologe Jasmin Mujanović bezeichnet sie in seinem Buch Hunger and Fury als "elastischen Autoritarismus"; der Vorsitzende von Transparency International in Bosnien, Srđan Blagovčanin, spricht in seiner aktuellen Studie von der "Herrschaft der Kartelle". Nach Auffassung von Vedran Džihić vom österreichischen OIIP (Österreichisches Institut für Internationale Politik) handelt es sich bei den Wahlen in Serbien um eine "Scheindemokratie als Illusionskunst".

Leider sieht es in einigen EU-Staaten kaum besser aus. Sie hatten nur das Glück, rechtzeitig Clubmitglied zu werden, wie Beispiele aus Rumänien und Bulgarien, Malta, Zypern, Ungarn oder Polen belegen. Der ungarische Soziologe Balint Magyar bezeichnete Ungarn bereits 2016 als "Post Communist Mafia State". Seine Kriterien lassen sich auch auf die Westbalkan-Sechs anwenden..  

Belgien Treffen Westbalkan-EU in Brüssel
EU-Westbalkan-Gipfel in Brüssel (16.02.2020)Bild: European Union

Die Brüsseler Entscheidungsträger und ihre Bürokratie schert das angesichts anderer Prioritäten kaum. Es macht in der Tat wenig Sinn, auf dem Balkan "regelbasierte" Reformen anzumahnen, wenn EU-Staaten, auch Deutschland, auf Regeln pfeifen, sobald  ihre "eigenen Interessen" berührt sind. Die europäischen Parteienbündnisse, insbesondere  EVP und PSE, spielen eine bedenkliche Rolle beim Arrangement mit den Kleptokratien auf dem Balkan. Die Etikettierung der Balkanparteien als konservativ, christlich, liberal, sozialdemokratisch oder sozialistisch ist schlicht irreführend.

Der sogenannte Berliner Prozess, 2014 mit viel Elan und guten Absichten begonnen, ist zum berühmten kreißenden Elefanten geworden, der eine Maus gebiert. Die Jugendaustauschorganisation RYCO (Regional Youth Cooperation Office), das fast einzige konkrete Ergebnis des Prozesses, soll damit nicht abgewertet werden. Sie verdankt ihre Existenz engagierten Vertretern der Zivilgesellschaft.

Angestrebte Infrastrukturprojekte stehen auf dem Papier. China baut Autobahnen, Zugstrecken und Brücken, manchmal sogar mit EU-Förderung, und lockt die Staaten in die Schuldenfalle. Die Nachhaltigkeit dieser Projekte steht auf einem anderen Blatt. Aber sie eignen sich bestens zur "Zweckentfremdung" vieler Millionen.

Eine nachhaltige, d.h. an Klimawandel und bedrohter Biodiversität angepasste Entwicklung scheint  weder im Interesse der Balkaneliten noch ihrer europäischen Partner zu sein. Die Gefahr ist groß, dass der Druck auf eine rasche "wirtschaftliche Erholung" nach Corona Bemühungen um einen Menschen und Natur dienenden Wandel Makulatur werden lässt.

Es ist höchste Zeit für ein grundsätzliches Umdenken in der  EU-Balkanpolitik. Eine neue "Methodologie" wird es nicht richten. Den korrupten Eliten in Politik und Wirtschaft muss die Stirn geboten werden. Sie müssen auch persönlich zur Rechenschaft gezogen werden. Dies geht nur in Zusammenarbeit mit der zwar schwachen, aber facettenreichen und lebendigen Zivilgesellschaft. Solange der Jugend nur die Wahl zwischen Anpassung oder Auswanderung bleibt, wird man den Exodus gerade der gut Ausgebildeten nicht stoppen können. Es bedarf endlich, in Brüssel wie in Berlin und Paris, des Muts, mit den Eliten auf dem Balkan Tacheles zu reden. Das aber bedeutet, auch die eigenen Defizite beim Namen zu nennen und zu bekämpfen. Ein "Weiter so" wäre fatal.

Gudrun Steinacker, zwischen 1976 und 2016  dreizehn Jahre  auf dem Balkan, zuletzt deutsche Botschafterin in Nordmazedonien (vormals FYROM) und Montenegro