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Gesellschaft

Tolu: "Prozess an kritischem Punkt"

Aydin Üstünel
22. Mai 2019

Acht Monate saß Meşale Tolu in der Türkei im Gefängnis. Nun ist die Journalistin zurück in Deutschland, doch der Prozess gegen sie läuft weiter. Im DW-Interview spricht sie über große Hoffnungen und kleine Erwartungen.

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Mesale Tolu, Journalistin,
Mesale ToluBild: picture-alliance/dpa/AP/L. Pitarakis

An diesem Donnerstag wird der Prozess gegen Meşale Tolu in der Türkei fortgesetzt. Im Frühjahr 2017 war die deutsche Journalistin und Übersetzerin dort verhaftet worden und mehrere Monate lang inhaftiert worde. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Acht Monate später wurde sie aus der Untersuchungshaft entlassen, im August 2018 durfte Tolu nach Deutschland ausreisen. Die Anklage aber wurde nicht fallen gelassen. Sollten die Richter Tolu für schuldig befinden, droht ihr eine Verurteilung zu bis zu 25 Jahren Haft.

Nach zwei Monaten Aufenthalt in Deutschland sind sie vergangenen Oktober in Istanbul vor Gericht erschienen. Diese Woche werden Sie nicht in die Türkei reisen, um im Prozess gegen Sie anwesend zu sein. Warum nicht?

Eigentlich hatte ich von Anfang an keine Anwesenheitspflicht. Aber ich habe trotzdem an den Gerichtsprozessen teilgenommen, weil ich das, was mir angehängt wird, abstreiten möchte. Ich wollte meinen Freispruch einfordern. Ob ich in die Türkei einreisen soll, bespreche ich immer mit meinen Anwälten, und wenn sie es für nötig halten, reise ich ein und nehme an den Prozessen teil. Ich fahre diesmal nicht hin, weil es auch terminlich nicht passt.

Was ist Ihre Einschätzung für diesen Prozesstag?

Der Prozess ist an einem kritischen Punkt. Der Richter wird wahrscheinlich den Staatsanwalt auffordern, ein Schlussplädoyer vorzubereiten. Dann würde der Prozess sehr schnell zu Ende gehen. Das heißt: noch ein oder zwei weitere Prozesstage und dann könnte es vorbei sei.

Wie hoch sind Ihre Erwartungen, dass es da ein wirklich rechtsstaatliches Urteil gesprochen wird?

Als Betroffene, aber auch als Journalistin, die lange Zeit darüber berichtet hat, weiß ich natürlich, dass es nicht rechtsstaatlich abläuft. Die Etappen des Verfahrens, die Art und Weise wie zum Beispiel die Beweismittel zusammengeführt werden, all das läuft mit Befehl von oben ab. Die Richter und die Staatsanwälte sind Kader der AKP-Regierung, die im Interesse des Staates Urteile durchführen und Haftstrafen aussprechen. Von daher ist meine Erwartung an dieses Rechtssystem gleich null. Aber ich möchte wenigstens, alles Mögliche getan haben, um meine Unschuld zu beweisen.

Könnte man dann nicht konsequenterweise sagen: "Es macht für mich keinen Sinn. Ich fahre da nicht hin."?

Natürlich! Aber es geht nicht alleine um dieses Verfahren, sondern auch um Hunderte von Journalisten, die in der Türkei in Haft sind, verfolgt werden und denen die Arbeitsgrundlage entzogen wurde. Als ich im Oktober vor Gericht erschienen bin, habe ich das auch aus Solidarität für meine Kolleginnen und Kollegen getan. Ich wollte mit meiner Einreise darauf aufmerksam machen, dass in der Türkei Unrecht herrscht und sich mit meiner Freilassung nichts geändert hat. So erregt man Aufmerksamkeit.

Im vergangenen Herbst wurde auch das Ausreiseverbot gegen ihren Ehemann aufgehoben, und sie waren wieder als Familie vereint in Deutschland. Ist mittlerweile Normalität im Familienleben eingekehrt?

Wir sind wieder eine Familie und vereint. Aber natürlich sind die Erinnerungen noch präsent. Wir sind wohl nicht mehr dieselben Menschen. Zudem leben hier in Deutschland auch viele türkische Staatsbürger, die mit der Türkei sehr eng verbunden sind. Alles, was wir machen und sagen, wird genau beobachtet. Manchmal bekommen wir Drohungen oder wir werden in den sozialen Medien beschimpft. Ich liebe das Land (die Türkei, d. R.) zwar, muss aber dennoch über die Ungerechtigkeiten im System sprechen. Ich führe ein relativ normales Leben hier, doch der Druck des Prozesses in der Türkei ist weiter spürbar.

Ende April ist Ihr Buch "Mein Sohn bleibt bei mir" erschienen. Darin beschreiben Sie detailliert die gemeinsame Zeit mit ihrem damals zweijährigen Sohn im Gefängnis von Bakırköy. Sechs Monate lang war er bei Ihnen im Gefängnis. Wie geht es ihm heute?

Es geht ihm gut. Nach der Zeit im Gefängnis fehlte ihm allerdings Selbstbewusstsein. Wir mussten eine Weile daran arbeiten, sein Trauma hinter sich zu lassen. Doch als wir nach Deutschland kamen, hat sich vieles von alleine geregelt. Sein Vertrauen war wieder hergestellt, die Ängste sind verschwunden, vieles hat er vergessen oder fast vergessen.

Könnten Sie sich vorstellen, eines Tages wieder in die Türkei zurückzukehren und dort zu leben?

Ja, warum nicht? Ich sage auch immer, dass ich Sehnsucht nach der Türkei und nach Istanbul habe. All das unerfreuliche, das ich erlebt habe, hat nichts mit der Bevölkerung zu tun, sondern mit der politischen Herrschaft. Daher kann ich mir natürlich vorstellen, dass ich dann wieder in der Türkei lebe, sobald wieder alles besser wird.