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"Wir haben keinen Zauberstab"

Sarah Mersch21. März 2013

Tunesien könne bei der Demokratisierung von Deutschland und Europa lernen, sagt der tunesische Präsident Moncef Marzouki im DW-Interview.

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Tunisian President Moncef Marzouki is seen in his office prior to his meeting with Tunisian premier-designate Ali Larayedh on March 8, 2013, in Tunis. Larayedh unveiled a proposed new coalition government after a deal was reached in last-minute talks aimed at ending a major political crisis. AFP PHOTO / FETHI BELAID (Photo credit should read FETHI BELAID/AFP/Getty Images)
Tunesien Präsident Moncef Marzouki 08.03.2013Bild: Fethi Belaid/AFP/Getty Images

Deutsche Welle: Herr Präsident, Sie haben immer auf Einigung und Moderation zwischen den verschiedenen politischen Kräften gesetzt. Hat diese Strategie in Tunesien nach der Ermordung des Oppositionspolitikers Chokri Belaid noch ihre Berechtigung?

Moncef Marzouki: Natürlich, mehr denn je. Denn wenn dieses Land seine sozioökonomischen Probleme angehen will, dann braucht es politische Stabilität. Ich will, dass wir einen Konsens finden im Hinblick auf die Verfassung und die Regierung. Wir brauchen eine versöhnende Botschaft, um das Land zu befrieden, damit der Übergang zur Demokratie weitergeht.

Tunesien hat die Krise noch nicht überwunden – wie kann die Lösung mit der neuen Regierung unter der Führung von Premierminister Ali Larayedh aussehen?

Wir haben die Probleme eines Landes, das gerade eine Revolution durchlebt hat und dabei ist, demokratische Strukturen aufzubauen. Im Vergleich zu anderen Staaten sieht man einen ganz klaren Unterschied: Portugal hat acht Jahre für die Demokratisierung gebraucht, die Spanier drei, wir machen es in zwei. Tunesien hat politische Krisen durchlebt, aber das Land ist immer stabil geblieben. Ich finde, wir kommen ganz gut zurecht.

In welchen Bereichen läuft es denn gut?

Vor zwei Jahren herrschte hier noch eine Dikatur, ohne Meinungsfreiheit, ohne Demonstrationsfreiheit, ohne die Möglichkeit, gemeinnützige Vereine zu gründen. Diese Freiheiten haben wir jetzt erreicht. Die Presse schimpft von morgens bis abends über die Regierung und den Präsidenten. Mehr als tausend Nichtregierungsorganisationen wurden gegründet und mehr als hundert Parteien. In dieser Hinsicht ist der Übergang vollendet. Im sozioökonomischen Bereich sind wir im Verzug, weil wir feststellen mussten, dass die Situation noch schlimmer ist, als wir dachten. Wir arbeiten daran, aber wir haben keinen Zauberstab. Außerdem bauen wir gerade die staatlichen Institutionen neu auf. Wir nehmen uns Zeit, damit diese Medienregulierungsbehörde, die Wahlinstanz und das Gesetz zur Unabhängigkeit der Justiz auf einem möglichst weiten Konsens beruhen. Das ist eine langwierige, komplexe und frustrierende Arbeitweise. Wir verlieren dabei unglaublich viel Zeit und Energie, aber das ist der wahre Lernprozess der Demokratie.

Sie betonen, dass der Aufstand in Tunesien vor allem soziale und wirtschaftliche Gründe hatte, aber wenn man die Debatten in der Verfassungsversammlung und den Medien verfolgt, dann geht es vor allem um Fragen der Identität.

Es gibt zwei Arten von Extremismus in Tunesien: den religiösen und den laizistischen. Zur ersten Kategorie zählt der Salafismus, der nur eine Fassade eines sozialen Problems ist: Das Lumpenproletariat schwingt sich auf gegen die Partei Ennahda, die es für eine bürgerliche islamistische Partei hält. Auf der anderen Seite gibt es die laizistischen Extremisten, die schon Pickel bekommen, wenn sie von Islamisten oder sogar schon das Wort 'Islam' hören. Für die Mehrheit der Tunesier sind die wichtigen Fragen aber Brot, Wasser, Elektrizität und wirtschaftliche Entwicklung.

Demonstranten ziehen durch Tunis am 16. März 2013 (Foto: AFP/Getty Images)
Demonstration in Tunis am 16. März, 40 Tage nach der Ermordung von Chokri BelaidBild: AFP/Getty Images

Sie haben kürzlich vor dem Europaparlament gesagt, dass die Zeit nach der Revolution schwieriger sei als die Revolution selbst. Wo liegt die größte Herausforderung?

Das ist eine psychologische Herausforderung. Die Leute denken, dass die Probleme nach einer Revolution einfach verschwinden, dabei verändern sie sich nur: Früher hatten wir die Probleme einer Dikatur, heute die einer Demokratie. Es gibt natürlich sofort konkrete Ergebnisse der Demokratie: Dass die Menschen keine Angst mehr haben, ist herausragend. Aber vor allem die wirtschaftlichen Erwartungen sind so hoch, dass es auch Enttäuschungen gibt. Die Forderung, dass es von heute auf morgen keine Korruption mehr gibt und alle Arbeitsplätze bekommen, ist aber unmöglich zu erfüllen.

Viele Länder der Europäischen Union haben lange den früheren Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali unterstützt, heute unterstützt die EU die neue Regierung, kritisiert aber auch das Erstarken der Islamisten. Ist Europa für Sie trotzdem ein glaubwürdiger Partner?

Die EU ist unser wichtigster Partner und wir wollen, dass sie es bleibt. Es stimmt, dass viele Europäer Islamisten und Terroristen gleichsetzen. Sie werden ihre Wahrnehmung ändern müssen und lernen, dass es verschiedene Islamismen gibt. Wie bei den Christdemokraten in Europa wird es hier islamische Demokraten geben, die konservativ sind und gleichzeitig die Demokratie respektieren.

Was erwarten Sie konkret von Europa?

Deutschland hat eine reiche Erfahrung im Aufbau eines Verfassungsgerichts, in diesem Bereich kann es uns unterstützen. Wir sind sehr froh, dass Deutschland akzeptiert hat, einen Teil der tunesischen Schulden in Entwicklungsprojekte umzuwandeln. Außerdem wollen wir eine deutsch-tunesische Universität gründen, und in Schlüsselbereichen wie zum Beispiel der Energie zusammenarbeiten.

Die Frage nach der Bedeutung der Regionen stellt sich in Tunesien seit der Revolution immer wieder: Ist das deutsche Föderalismus-Modell auch für Tunesien interessant?

Auf jeden Fall. Ich habe ein Projekt vorgeschlagen, Tunesien in sieben Regionen aufzuteilen, die auch wirtschaftlich weitgehend unabhängig sind. Es wäre wünschenswert, wenn Deutschland dann eine Art Patenschaft übernehmen könnte, und zwar auf allen Ebenen: Zivilgesellschaft, Regionen und Staat.

Das Interview führte Sarah Mersch.

Der tunesische Präsident Moncef Ben Mohamed Bedoui-Marzouki besucht Deutschland am 21. und 22. März. Nach seinem Medizin- und Psychologiestudium in Straßburg arbeitete er in Frankreich als Arzt. 1979 kehrte er in seine Heimat zurück, wo er zwischen 1989 und 1994 die tunesische Liga für Menschenrechte führte. Nachdem er 1994 versucht hatte, bei den Präsidentschaftswahlen gegen Ben Ali anzutreten, verbrachte er vier Monate im Gefängnis.