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Marrakesch - Stadt der Bettler

14. Dezember 2010

Marrakesch ist nicht nur die schicke Stadt des Jetset und der Luxushotels, wo der Champagner in Strömen fließt. Es gibt auch das andere Marrakesch. Die spirituelle Stadt. Den Ort der Ruhe – auch für die Armen der Stadt.

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Djemaa el Fna (Foto: picture alliance)
Marrakesch ist nicht nur ein Ort des Luxus...Bild: picture-alliance/Bibliographisches Institut/Prof. Dr. H. Wilhelmy

Fast ohne Zähne, ein zerfurchtes Gesicht und ein schneeweißer Bart - Haj Mohamed ist ein hagerer Greis in schwarzem Gewand, der vom Leben gezeichnet ist. Seit seiner Jugend ist er blind. Abgemagert und gebrechlich stützt er sich auf einen Gehstock, kommt nur in kleinen Schritten voran. "Allah hat entschieden, dass ich so lebe. Und ich habe dieses Los angenommen – ich akzeptiere es, weil es Gottes Wille ist", sagt Mohamed.

Leben am Rand der Gesellschaft

Bettler Marrakesch (Foto:flickr/simon.cole)
...sondern auch eine Stadt Armen, Alten, Blinden und Behinderten...Bild: flickr/cole.simon

In der Zaouia Sidi Bel Abbes, am nördlichen Rand der Medina, die hinter dem mächtigen Tor Bab Taghzout liegt, hat er Zuflucht gefunden. Schon seit mehr als 40 Jahren kommt Mohamed jeden Tag hierher. Im Schatten der Kolonnaden gibt man ihm zu essen und schenkt ihm ein Glas zuckersüßen Minztee ein. Vor allem trifft Haj Mohamed hier viele seiner Leidensgenossen – die Blinden, die Versehrten, die Verlierer. Die Zaouia ist ein spiritueller Ort der Begegnung, des Gebets. Sie liegt versteckt hinter einer Moschee und einem meterhohen weißen Stucktor. Benannt ist die Zaouia nach dem Mystiker Sidi Bel Abbes, dem berühmtesten der Sieben Heiligen von Marrakesch. Selbstlos lebte er im 12. Jahrhundert nach den Regeln der Nächstenliebe, kämpfte für Gerechtigkeit, geißelte in seinen Predigten den Geiz der Reichen und kümmerte sich um die Armen und Blinden. Bis heute ist der Heiligenkult tief verankert im islamischen Volksglauben, und in der Zaouia beten die Menschen für das, was sie Baraka nennen – die religiöse Segenskraft. "Bei Sidi Bel Abbes drehte sich das ganze Leben ums Teilen und ums Geben. Mit Herz und Seele. Er musste geben, um zu existieren", sagt Kamel Tebaa, der mehr als achthundert Jahre später die Nachfolge von Sidi Bel Abbes angetreten hat.

Ort der Zuflucht

Er wacht über ein uraltes Wohltätigkeitssystem, das mit Spenden von Besuchern die Armen unterstützt, die Not leiden. Es werden immer mehr, rund 2000 Menschen sind von Kemal Tebaas gesammeltem Geld abhängig, und deshalb muss das Geben organisiert sein. Die Bedürftigen tragen einen Ausweis bei sich, auf dem Monat für Monat die Beträge vermerkt sind. Kamel Tebaa kennt den Vorwurf, seine Einrichtung sei nichts anderes als ein Feigenblatt einer durch und durch dekadenten Stadt. Trotzdem ist die Zaouia für ihn der beste Beweis, dass es in Marrakesch noch immer so etwas gibt wie Solidarität. Und dann, beim Abschied am Tor, bricht es aus ihm heraus, als er dem alten Haj Mohamed auf die Stirn küsst und ihn zu seinen Freunden führt. "Es sind die Menschen, die mich berühren. Diese Arbeit hat mein Leben verändert. Ich sehe viel klarer. Zum Beispiel, was das Materielle betrifft, den Konsum", sagt Tebaa.

Zaioua (Foto:picture alliance)
...die in Sidi Bel Abbès Mausoleum Zaouia Zuflucht findenBild: picture alliance/Uwe S. Meschede

Der Konsum sei ein schleichendes Gift der Gesellschaft, in der Schnelllebigkeit vorherrsche und der Drang, immer noch mehr besitzen zu müssen. Das alles betrachte man mit mehr Distanz, wenn man wie er miterlebe, wie manche Menschen aus zehn Kilometer entfernten Vierteln kämen, um sich sieben Euro abzuholen, sagt Tebaa. "Sieben Euro, für die sie uns auch noch sehr dankbar sind. Ich danke Allah, dass ich das erleben darf."

Autor: Alexander Göbel

Redaktion: Michaela Paul