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Aufklärung oder Hexenjagd?

Andreas Leixnering12. April 2007

Das neue Lustrationsgesetz spaltet die Nation. Mehr als 700.000 Polen sollen erklären, ob sie Geheimdienstspitzel waren. Endlich Aufklärung, loben Befürworter. Kritiker beschimpfen das Gesetz als politisches Instrument.

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Symbolbild Durchleuchtung
Suche nach Wendehälsen: Wie weit darf die "Durchleuchtung" gehen?Bild: picture-alliance/dpa

"Lustration" kommt aus dem Lateinischen und bedeutet "Durchleuchtung" oder auch "feierliche Reinigung". Vielen Polen ist jedoch wenig feierlich zu Mute, angesichts des Mitte März in Kraft getretenen Gesetzes, hinter dem sie eine politische Hexenjagd wittern.

Bis zum 15. Mai 2007 sollen 700.000 Tätige des öffentlichen und staatlichen Bereichs schriftlich erklären, ob sie zwischen Juli 1944 und Juli 1990 mit den "Staatssicherheitsorganen" des kommunistischen Polen zusammengearbeitet haben. Wer dies verweigert oder der Lüge überführt wird, darf seinen Beruf zehn Jahre lang nicht mehr ausüben.

Neben Medienvertretern müssen jetzt auch Politiker, hohe Beamte und Richter, Anwälte, Chefs staatlicher Firmen und Professoren die Karten auf den Tisch legen. Vor allem Journalisten und Akademiker rufen schon seit Wochen zum Boykott.

Polnische Bürger verlangen Aufklärung

Staatspräsident Lech Kaczynski und sein Zwillingsbruder, Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski, Quelle: AP
Staatspräsident Lech Kaczynski und sein Zwillingsbruder, Ministerpräsident Jaroslaw KaczynskiBild: AP

Die "Entkommunisierung" und der "Aufbau einer neuen moralisch-tadellosen Vierten Republik" liegen Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski und seiner Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) sehr am Herzen. Mit dem Gesetz hat er sein Wahlversprechen erfüllt - und kommt dem verletzten Gerechtigkeitssinn vieler Polen entgegen. Seit dem Wendejahr 1989 wurden immer wieder hohe politische Amtsträger der Gegenwart als ehemalige Funktionäre entlarvt. Auf Ranglisten der reichsten Polen tauchten wiederholt Ex-Geheimdienstler auf, die ihr Insiderwissen in bare Münze verwandelt hatten. Erst im Januar 2007 musste der Warschauer Erzbischof Wielgus seine Mütze nehmen. Der kommunistischen Geheimdienst SB hatte ihn in den Akten als "geheimen Mitarbeiter" geführt.

Die Politik der Lustration, der Durchleuchtung, ist in Polen bisher nur zaghaft betrieben worden. Es galt das Gebot des "dicken Schlussstrichs" unter der Vergangenheit - darauf hatten sich die oppositionellen Gewerkschaft Solidarnosc und die abtretenden Kommunisten 1989 geeinigt. Zwar gab es bereits 1992 und 1997 juristische Versuche, so genannte System-Opportunisten aufzuspüren. Der Kreis der Zielpersonen blieb jedoch auf eine kleine Gruppe führender Politikern und Staatsdiener beschränkt. Mit der Ausweitung auf die gesamte gesellschaftliche Elite geht Polen jetzt weiter als alle postkommunistischen Nachbarstaaten.

"Aufklärung mit dem Rasenmäher"

Professor Dr. Dieter Bingen, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt
Professor Dr. Dieter Bingen, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in DarmstadtBild: presse

"Das Gesetz kommt viel zu spät und spaltet die polnische Gesellschaft," kritisiert Dieter Bingen. Der Direktor des Deutschen Polen-Instituts hält das Anliegen zwar für ehrenwert, da in den 1990er-Jahren eine Aufarbeitung in der Tat versäumt worden sei. Doch in der vorliegenden Form erfolge die Aufklärung nach dem "Rasenmäher-Prinzip". Es entstehe der Eindruck der Pflege einer Kultur des Verdachts. Zudem könne sich die Überprüfung über Jahre hinziehen.

"Fälschung plumper Machart"

Und das dürfte nicht das einzige Problem bleiben. Das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) soll die Erklärungen über die Spitzeltätigkeiten überprüfen. Die Grundlage dafür liefern Geheimdienstakten aus der Zeit von 1. September 1939 bis zum 31. Dezember 1989, die Polens Pendant zur deutschen Stasi-Unterlagenbehörde hortet. Doch kann man den Papieren trauen? "Die Materialien und Unterlagen über Geheimdiensttätigkeiten sind im nachhinein oft präpariert worden und außerdem unvollständig", gibt Polen-Experte Bingen zu Bedenken. Ministerpräsident Kaczynski selbst habe seine eigene Akte als "Fälschung besonders plumper Machart" bezeichnet.

Erbitterter Kampf unter Polens Journalisten

Schriftzug der Zeitung "Gazeta"
Polens größte Tageszeitung - herausgegeben vom ehemaligen antikommunistischen Dissidenten Adam Michnik

Vor allem konservative Publizisten unter 40, die so genannten "jungen Wölfe", unterstützen die radikale Durchleuchtung der Gesellschaft. Andere hingegen sähen im Lustrationsgesetz ein Instrument zur moralischen Diskreditierung von allem, was links ist von der Regierungspartei PiS, so Bingen.

Weil jetzt auch Medienvertreter durchleuchtet werden, wird an den Fronten im polnischen Blätterwald besonders erbittert gekämpft. Die liberale "Gazeta Wyborcza" unter Adam Michnik hat sich an der Spitze des Protests gegen das Gesetz geschrieben. Die konservative "Rzeczpospolita" steht auf der Seite der Kaczynski-Brüder: Die Journalisten als "vierte Macht" im Staate müssten auch selbst bereit sein, sich durchleuchten zu lassen.

Selbstbild der polnischen Rechten könnte Schaden nehmen

Im Mai könnte das Verfassungsgericht Teile des Gesetzes kippen. Wenn nicht, könnte die weitreichende Lustration unangenehme Folgen für die moralischen Nationalideale der polnischen Rechten haben. Denn das Gesetz treffe hauptsächlich Angehörige der früheren antikommunistischen Opposition, erklärt Bingen. In Wirklichkeit habe sich der Widerstand immer wieder in der ein oder anderen Form mit Mitarbeitern des Geheimdienstes abgeben müssen. "Dass das Ansehen der System-Opposition im Ganzen geschädigt werden könnte, muss den Intentionen der Brüder Kaczynski zuwider laufen."