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Lucia Chiarla: "Bei Arbeit geht es auch um Identität."

Jochen Kürten
14. November 2018

Der Film "Reise nach Jerusalem" blickt hinter die Fassaden der glänzenden Arbeitslosen-Statistik in Deutschland. Wie geht es einer jungen Frau, die keine Arbeit findet, sich aber nicht demütigen lassen will?

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Filmstill Reise nach Jerusalem
Bild: Filmperlen

Die 39-jährige Alice, wunderbar gespielt von Eva Löbau, ist arbeitslos. Alice hat keine Familie, keine Kinder. Ihren Freunden gegenüber behauptet sie, dass sie als Freelancerin arbeitet. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Alice hat kaum noch Geld. Das Jobcenter bietet auch keine Lösungen an und die Weiterbildungsangebote helfen nicht weiter. Irgendwann beschließt die junge Frau, sich nicht mehr der demütigenden Prozedur von Jobcenter und absurden Bewerbungs-Seminaren zu unterziehen. "Reise nach Jerusalem" ist ein Film aus dem Hochbeschäftigsungsland Deutschland, das hinter die Fassaden der Statistik blickt. Wir sprachen mit der Regisseurin Lucia Chiarla.

Deutsche Welle: Sie schildern den gesellschaftlichen und persönlichen Abstieg einer jungen Frau ohne Arbeit. Warum haben Sie das Thema Arbeitslosigkeit gewählt?

Lucia Chiarla: Gute Frage, aber das Thema ist doch sehr aktuell. Ich selber bin Künstlerin. Alle Leute, die ich kenne, haben immer mehr Schwierigkeiten, eine Festanstellung zu finden. Als Künstlerin ist man das natürlich gewohnt. Mal hat man einen Auftrag, dann aber einen Monat nicht mehr.

Filmstill Reise nach Jerusalem
Eva Löbau spielt die junge Frau in "Reise nach Jerusalem" zwischen Verzweiflung, Hoffnung und DemütigungBild: Filmperlen

Ich habe aber gemerkt, dass es auch um viele andere Menschen geht, die einer ganz normalen Arbeit nachgehen: Es betrifft die Mittelschicht, die sich immer mehr bedroht sieht und nicht mehr die Möglichkeit hat, solche festen Anstellungen zu bekommen. Die Menschen können sich kaum noch selbstständig für eine Arbeit entscheiden.

Wenn man an den Rand der Gesellschaft rutscht und zum Job-Center geht, um einfach an ein bisschen Geld zu kommen, um seine Ruhe zu haben, dann ist das einfach ein schwieriger Weg. Es ist also nicht nur meine persönliche Geschichte, es gilt für viele Menschen. Es gibt immer weniger Arbeit, und immer mehr Leute müssen sich mit dem Thema beschäftigen. Diese Menschen müssen sich beim Arbeitsamt von Leuten belehren lassen. Sie müssen sich fortbilden lassen, etwas Neues lernen und wissen doch oft: Es bringt nichts…

Ich verstehe Ihren Film "Reise nach Jerusalem" auch als Blick hinter die deutsche Arbeitslosen-Statistik, die ja eigentlich Monat für Monat glänzende Zahlen ausspuckt. Ist das richtig?

Ja, das war auch für mich interessant. Ich verstehe mich im Übrigen als Europäerin, nicht als Deutsche oder Italienerin. Wenn man also den Sozialstaat in Deutschland sieht, auch in Europa - das deutsche System wird ja in andere Länder exportiert -, dann merkt man Folgendes: Dieses System, das versucht, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, ist auch sehr demütigend. Viele haben studiert, sind dann aber arbeitslos. Dann muss man sich weiterbilden. Man findet irgendeine Beschäftigung. Man bekommt von irgendjemandem in einem Jobcenter eine Beschäftigung. Das ist einfach deprimierend. Jeder Mensch braucht ja eine Beschäftigung.

Filmstill Reise nach Jerusalem
Im kargen Ambiente der Job-Center wird nach einer neuen Arbeit für Alice gesuchtBild: Filmperlen

Dieses ganze System hat mich von Anfang an interessiert. Ich hatte immer gedacht, das System funktioniert ganz gut, weil man ja nicht auf der Straße landet. Aber sobald ich angefangen habe, mehr zu verstehen, habe ich herausgefunden, dass es auch ein sehr schlaues System ist, in dem es um Quoten geht, die immer besser werden müssen.

Es entsteht dadurch auch eine Generation von arbeitenden Menschen, die sich sehr klein macht, die depressiv sind. Man merkt einfach, dass sich die Menschen immer mehr bemühen müssen, eine Arbeit zu finden. Dadurch entsteht bei vielen eine depressive Stimmung, einfach auch, weil man nicht aktiv ist. 

Was wären die Alternativen?

Es wird ja viel diskutiert über das bedingungslose Grundeinkommen. Vielleicht gibt es noch andere Lösungen, wo die Leute in einem sozialen Staat einfach mehr davon profitieren können, was sie vorher studiert haben. Wenn man lange studiert, dann will man doch auch daraus was machen. Man will ja nicht irgendwas anderes machen, es geht nicht nur um Jobs und Geld. Es geht auch um Identität.

Natürlich gibt es auch Leute, die sagen: Ich mache nur einen Job, ich will nur Geld verdienen. Aber es gibt auch viele Menschen, die so lange studiert haben…

Ist das nicht ein Luxusproblem?

Es ist kein Luxusproblem, es ist eine Frage der Identität in der neoliberalen Gesellschaft, das sich immer stärker entwickelt.

Filmstill Reise nach Jerusalem
"Reise nach Jerusalem" zeigt auch das (meist unglückliche) Privatleben von AliceBild: Filmperlen

Wie sind Sie auf den Titel gekommen?

Der Titel "Reise nach Jerusalem" steht als Metapher für diese Gesellschaft, wo es immer weniger Plätze gibt und das Spiel immer härter wird. Ich habe gedacht, mit dieser Metapher kann das gut funktionieren, weil es ein hartes Spiel ist und die Leute darunter leiden.

Ich kann mir vorstellen, dass sich das ändert, dass sich politisch etwas bewegt. Ich hoffe zumindest, dass es in die richtige Richtung geht. Die Leute erwarten, dass es ein Sozialsystem gibt, das sie unterstützt. Der Markt ändert sich ständig, man muss die Kompetenzen erweitern, dafür braucht man Zeit und Geld. Wenn man sich aber ständig mit bürokratischen Formularen beschäftigen muss, dann ist es schwierig.

Wie sind Sie an das Thema herangegangen, wie haben Sie recherchiert?

Ich habe viel im Internet recherchiert. In vielen Foren gibt es Diskussionen und auch YouTube-Videos. Ich habe gedacht, das kann nicht sein... das ist ja ein Horror! Dann habe ich auch vieles von Freundinnen gehört, die solche Erfahrungen gemacht haben, die in solchen Situationen waren.

Mich haben auch die Gebäude (Job-Center etc.) interessiert, die Stimmung, die dort vorherrscht. Die Stimmung der Leute, die auf Jobsuche sind, die eigentlich viel lieber nach Hause gehen würden. Mich haben die vielen Bürokraten interessiert, die sich damit beschäftigen, die sind sehr interessant als Figuren.

Lucia Chiarla
Humor gehört auch in so einen Film: Lucia Chiarla im DW-GesprächBild: DW/J. Kürten

Das ganze System besteht ja auch aus vielen Fort- und Weiterbildungs-Institutionen. Das ist eine eigene Welt, es gibt viele Organisationen, die mit der Arbeitssuche anderer Geld verdienen.

Diese Träger verdienen sehr viel Geld durch das Arbeitsamt. Diese Kurse kosten viel Geld. Wenn man Weiterbildung selber bezahlen würde, wäre das superteuer, aber wenn das Job-Center das bezahlt, ist das sehr billig. Ein Teil wird ja übernommen. Oder auch alles. So ein Kurs kann 4000 Euro kosten.

Das ganze ist auch wieder eine Art der Arbeitsbeschaffung: Das Geld zirkuliert. Die da arbeiten, haben natürlich auch keinen Bock, dort zu arbeiten. Ich kann mir vorstellen, dass die auch auf der Suche nach einem besseren Job sind, als vor zehn Leuten zu unterrichten, die ohne Motivation sind und nur darauf warten, dass der Kurs zu Ende ist.

Sie haben in Ihrem Film - trotz des an sich ernsten Themas - auch eine gehörige Portion Humor eingebaut. Warum war das wichtig für Sie?

Unbedingt. Für mich ist das eine Kunst und eine große Herausforderung, das bei einem solchen Thema zu erreichen. Ich bin jemand, der im Leben, wenn es nicht so gut läuft, irgendwann auch lachen können muss. Ich muss eine Art finden, um darüber zu lachen. Sobald ich lache, atme ich wieder! Da kommt energetisch und organisch wieder Energie. Wenn man nicht mehr lachen kann, dann ist es wirklich tragisch.

Film-Plakat Reise nach Jerusalem

Wenn alles schief geht, wenn man einen Termin hat und man kommt nicht hin, alles kommt zusammen, man hat Pech, absurde Situationen - dann bleibt einem irgendwann nichts mehr anderes übrig als zu lachen. Das gilt dann auch für meinen Film: Der Zuschauer muss irgendwann lachen - und auch lachen wollen. Wenn man will, dann wird man leichter, dann ist eine Lösung näher. Das Talent zu lachen, das ist ein Schlüssel für das Leben im Allgemeinen.

Und doch hat der Film eine sehr traurige Note.

Die Aussage ist natürlich: Es funktioniert so nicht! Ich weiß natürlich auch, dass nicht alle Lust haben, über das Thema zu lachen. Es gibt ja auch viele Fälle, die viel schlimmer sind als der im Film gezeigte. Es gibt immer mehr Leute, die Leih-Arbeit machen müssen, die sich zu Tode arbeiten oder ein Burn-Out bekommen. Und auch immer mehr, die gar keine Arbeit haben.

Festanstellungen kosten die Firmen sehr viel Geld, so dass die Firmen keine Leute mehr anstellen können. Es ist ein Kampf. Der Druck wird überall stärker, man hat keine Ruhe mehr zu arbeiteten. Man kann auf der anderen Seite aber auch keine "Revolution" (gegen die Lage am Arbeitsmarkt) anzetteln, wenn man vereinzelt und allein ist.

Sie stellen in Ihrem Film eine Frau in den Mittelpunkt – das ist keine zufällige Entscheidung, oder?

Meine Figur Alice sagt ja in dem Film: Ich will meine Arbeit weiter machen. Ich will keine Umschulung machen, ich will nur arbeiten, ich habe keine Kinder, keine Familie. Es war mir auch deswegen wichtig, dass es eine Frau ist, die sagt, dass sie keine Kinder mag und arbeiten will, weil sie sich damit identifiziert. Das muss man respektieren, das ist auch kein Klischee. Es geht doch dann nicht, dass jemand plötzlich sagt: Du wirst jetzt Erzieher! Oder: Du wirst jetzt Krankenpfleger.

Am Ende ist die Aussage also traurig. Wir verlieren so viele Leute. In Europa können immer mehr Leute studieren, deswegen muss es doch auch den Anspruch geben, dass man diese Leute beschäftigt. Ich habe auch einen Sohn, der studiert. Was soll ich ihm heute sagen: Studiere weiter? Oder: Lern doch besser Tischler? Dann hast du mehr Glück, wenn Du mit Holz gut arbeiten kannst…

Der Film "Reise nach Jerusalem" der deutsch-italienischen Regisseurin, Schauspielerin und Autorin Lucia Chiarla startet an diesem Donnerstag (15.11.) in den deutschen Kinos. 

Das Gespräch führte Jochen Kürten.