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Literatur ohne festen Wohnsitz

29. September 2010

Zum zweiten Mal wird in Berlin der "Internationale Literaturpreis" vergeben. Mit in der Jury sitzt die Literaturkritikerin Sigrid Löffler. Im Interview spricht sie über den Preis und einen Kandidaten: Dinaw Mengestu.

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DW-WORLD.DE: Warum braucht internationale Literatur auf dem deutschem Buchmarkt einen eigenen Preis - der größte Teil des deutschen Buchmarkts besteht doch schon aus Übersetzungen ausländischer Werke?

Sigrid Löffler: Dieser Preis richtet sein Augenmerk auf Autoren, die nicht mehr in den alten Kategorien von Nationalliteratur, von Herkunft, von Heimat operieren, die da gar nicht mehr reinpassen. Das sind Autoren, die neue Brücken in eine globalisierte Welt schreiben. Sie denken, manchmal schreiben sie auch mehrsprachig, oft haben sie die Sprache gewechselt, sind ins Englische, ins Französische übergewechselt und erneuern in gewisser Weise diese Weltsprachen, weil sie aus ganz anderen Sprachen eingewandert sind. Sie schaffen damit auch ein neues literarisches Idiom, es ist ein Schreiben mit Akzent.

Was zeichnet deren Themen aus?

Siegrid Löffler (Foto: gezett.de)
Jury-Mitglied Siegrid LöfflerBild: gezett.de

Auch die die Themen, die diese Autoren bringen, sind ganz spezifisch, sie sind nicht mehr zwingend autobiografisch. Sehr wichtig sind für diese Autoren die Themen Krieg, Gewalt und Unterdrückung, Korruption der Eliten, oft auch Zensur, die Verletzung der Menschenrechte im Großen und Ganzen. Die Shortlist der diesjährigen Auswahl zeigt, dass hier Autoren zu Worte kommen, die sich zwischen den Welten bewegen, die sich nicht mehr eindeutig verorten lassen. Und oft sind es die Nachgeborenen, die auf ihre Elterngeneration, die Einwanderergeneration einen nicht unkritischen Blick werfen.

Das sind alles Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen, gibt es solche Autoren nicht auch in Deutschland?

Doch, es gibt sie. Das merkt man zum Beispiel an der Longlist des Deutschen Buchpreises, wenn man genau hinsieht, sind von diesen 20 Titeln ungefähr ein Drittel Migranten oder Personen mit Migrationshintergrund. Das sind Autoren, die aus anderen Sprachen in die deutsche Sprache eingewandert sind – das gibt es auch.

Sie haben das selbst mal Literatur ohne festen Wohnsitz genannt – das scheint ein globales Phänomen zu sein. Kommen wir zu der Shortlist des Internationalen Buchpreises. Welchen Titel möchten Sie uns zum Lesen empfehlen?

Es ist schwer, weil alle sieben ganz ausgezeichnet sind. Und weil potenziell jeder dieser Autoren den Preis verdienen würde. Einen würde ich dennoch besonders herausheben: Dinaw Mengestu. Der stammt von äthiopischen Einwanderern nach Amerika ab, hat eine amerikanische Ausbildung genossen, aber seine äthiopische Wurzeln nicht vergessen. Er schwebt zwischen zwei Kulturen und macht dieses Einwandererthema zu seinem Literarischen Gegenstand.

Dinaw Mengestu (Foto: Blair Fethers)
Für den Preis nominiert: Dinaw MengestuBild: Blair Fethers

Der Roman ist sein zweiter Roman. Er heißt "Die Melodie der Luft" und es geht tatsächlich um einen Luft-Wurzler. Der Protagonist und Ich- Erzähler ist äthiopischer Herkunft und lebt in Amerika, hat aber eine merkwürdige, apathische Haltung gegenüber Amerika, er widersetzt sich dem amerikanischen Credo: Der Dynamik des Vorwärts-Kommens, er will damit nichts zu tun haben lässt sich treiben. Das Merkwürdige ist, dass sich dieser Held auf erfundene Geschichten zurückzieht, er erfindet seine Herkunftsgeschichte, indem er seinem Vater, der aus Äthiopien fliehen musste, eine unglaublich dramatische Flüchtlingsgeschichte zudichtet, die aber so nicht stimmt. Und er fabuliert sich für seine amerikanische Umwelt eine Erfolgsgeschichte zusammen, die auch nicht den Tatsachen entspricht. Simpel gesagt: Dieser Mensch ist ein Lügner, das Lügen ist ihm zur zweiten Natur geworden.

Interessant ist ja auch, dass es um ein typisches Migrantenschicksal geht, aber das typische daran von Mengestu hinterfragt wird.

Ja das tut er, weil er eben schon der zweiten Generation angehört und sich nirgends zugehörig fühlt. In seinem ersten Roman wurde das auf die Frage gebracht: Wie soll so ein Held in Amerika leben, wenn er Äthiopien niemals wirklich verlassen hat. Das ist auch das Dilemma des neuen Helden von Dinaw Mengestu. Auch er schwebt zwischen den Kulturen und steht vor dem Dilemma: Wenn er Amerikaner sein will, müsste er seine Vergangenheit abstreifen und vergessen. Aber das wäre zugleich ein Verrat – auch an seinen Eltern. Das ist der Widerspruch, in dem sich dieser Held befindet.

Interview: Gaby Schaaf

Redaktion: Manfred Götzke