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Leserkrankheiten

20. November 2010

Über Buchsortiersysteme, Literatur-Roboter oder Schriftsteller als Autofahrer: Hier schreibt Thomas Böhm Kolumnen aus dem Lesealltag.

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Symbolbild Buchmanieren: Gabel neben aufgeschlagenem Buch
Bild: DW

"Nintendo-Nacken", "Wii"-Tennisarm, "Space-Invaders-Handgelenk" – wer Argumente gegen das Computerspielen sammelt: hier sind neben den kulturpessimistischen ein paar weitere - medizinische Krankheiten nämlich, die durch die stupide Wiederholung bestimmter Bewegungen beim Computerspielen verursacht werden. Ganz zu schweigen von Menschen, die so lange ohne zu essen und zu trinken fanatisch vor dem Computer saßen, bis sie schließlich dehydrierten und starben. Das kann uns Lesern nicht passieren. Unsere einzige stupide Handbewegung ist das Umblättern, aber das geschieht im statistischen Durchschnitt nur alle zweieinhalb Minuten.

Drogen im Bücherregal

Kein Kraut gewachsen ist jedoch gegen die bleibenden Schäden von Literaturkonsum. Eine Neigung zur Realitätsflucht zum Beispiel, die zur Realitätsverleugnung führen kann wie das Beispiel "Don Quichote" zeigt, das nicht deshalb schlecht ist, weil es ein halbes Jahrtausend alt und obendrein fiktiv ist – im Gegenteil: eigentlich müsste das Buch eine warnende Packungsbeilage enthalten, wirbt es doch letztlich für die Entrückung, indem es zeigt, wie jemand völlig süchtig wird nach der literarischen Fiktion, in die der Leserausch mündet.

So gesund ist Literatur

Thomas Böhm
Thomas BöhmBild: birgit rautenberg

Apropos Rausch! Wie viele junge Menschen wurden ins Unglück geführt, weil sie so sein wollten wie ihre literarischen Vorbilder aus Goethes "Werther", Schlegels "Lucinde", Kerouacs "On the road". Auf der Straße spielt übrigens auch die bemerkenswerteste Werbung für Computerspiele, die ich je gelesen habe: in Richard Powers Roman „Das Echo der Erinnerung“. Zwei Jungen rasen auf einer Landstraße auf eine Frau zu. Sie weichen aus, geraten auf die Gegenspur, dort kommt ein LKW. Dem Jungen am Lenkrad gelingt es, durch ein unglaubliches Manöver auch noch dem LKW auszuweichen. Woher beherrscht er das Manöver? Er hat es beim Computerspielen gelernt. Man muss Richard Powers für dieses beruhigende Exempel danken, das beweist: so gesund ist Literatur! Sie beruhigt sogar die Sorgen vor dem übermäßigen Computerspielen.

Autor:Thomas Böhm
Redaktion: Gabriela Schaaf

Thomas Böhm ist Programmleiter des Gastlandauftritts Island bei der Frankfurter Buchmesse 2011