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Lenin lebt!

Markus Reher29. August 2006

Allen Unkenrufen zum Trotz: Die einstige Sowjetmetropole Moskau hat sich zum Touristenmagnet gemausert. Und neben Kreml und Kirchen fasziniert die Reisenden aus West und Ost vor allem er: Lenin, Lenin und noch mal Lenin.

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Wladimir Iljitsch Uljanow, oder auch kurz "Lenin", vertritt sich vor dem Historischen Museum die Füße. Die Sonne erklimmt gerade den wolkenfreien Himmel über dem Roten Platz. An einem gewöhnlichen Wochentag wie diesem noch zu früh für revolutionäre Umtriebe. Als eine Schulklasse vorbei kommt schwenkt der Berufsrevolutionär das feuerrote Bolschewistenbanner mit Hammer und Sichel. Die Steppkes sind begeistert und posieren brav fürs Foto: Gruppenbild mit Revolutionär, Geschichtsunterricht zum anfassen.

Mit Spitzbart zum Spitzenverdienst

Eigentlich heißt Lenin Anatoli Iwanowitsch Koklenkow. Vor zwölf Jahren ist der 60-Jährige aus Tadschikistan nach Moskau gekommen. "Als junger Mann habe ich mir einen Bart stehen lassen, und da haben die Leute bei mir zu Hause schon immer gescherzt, ich sehe aus wie Lenin." Früher hat er als Hilfsarbeiter in Fabriken und auf Baustellen malocht. Heute bessert Anatoli Iwanowitsch seine schmale Rente im schwarzen Dreiteiler mit Spitzbärtchen und Käppi als Revolutionsführer fürs Fotoalbum auf. "3000 Rubel Rente (umgerechnet weniger als 100 Euro) im Monat, das reicht gerade mal für die Miete. Hier verdiene ich im Sommer 400 Dollar am Tag, wenn es gut läuft."

Und das Geschäft mit den Wiedergängern läuft gut. Mindestens zwei Lenins buhlen am Roten Platz um die Touristengunst. An Wochenenden reicht der Andrang gar für drei oder vier Doppelgänger. 15 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion erfreut sich der Weltrevolutionär bei den Russen ungebrochener Beliebtheit, geschlagen nur von Peter dem Großen, deutlich populärer noch als "Väterchen" Stalin. Und auch der spaziert lässig in mehrfacher Ausführung über das Trottoir. Mal in Paradeuniform, mal in zackigem Militärdress. Mal Mann in besten Jahren mit vollem schwarzen Haar, mal altersmilde und graumeliert. Ein Schmuse-Stalin zum anfassen. Vergessen all der Staatsterror, die Säuberungen und die Millionen Todesopfer.

Wie Lenin ins Exil

"Wir sind Schausteller", zuckt ein anderer Lenin ganz abgeklärt mit den Schultern. Alexander Jemeljanow ist 36 Jahre alt, "genau 100 Jahre jünger als Lenin," freut er sich verschmitzt. Sein Handy klingelt, ein neuer Auftrag. Wie seine Kollegen auch, tritt Jemeljanow zusätzlich bei Geburtstagen, Gedenkfeiern und Betriebsfesten auf. Lenin ist in in Moskau. Doch Jemeljanow zieht es wieder ins Ausland. "Lenin war im Exil, und auch ich habe fünf Jahre im Exil gearbeitet, in Athen." Jemeljanow schuftete auf den Großbaustellen für die Olympischen Spiele. 2005 kehrte er als Revolutionsführer in seine Heimatstadt zurück. Nun will er weiter. "In Deutschland gibt es doch auch noch Kommunisten. Brauchen die denn heute keinen Lenin mehr?"

Keine Probleme mit dem Zaren

Dass unter den Lenins und Stalins am Roten Platz auch ein Zar Nikolaus II. flaniert, lässt kaum einen der Touristen stutzen. Und die versammelten Lenins stört das schon gar nicht: "Er war doch auch eine wichtige Figur der russischen Geschichte." Ihr historisches Vorbild würde sich im Mausoleum umdrehen, ob so viel Geschichtsvergessenheit, hätte ihn sowjetische Präparierkunst nicht zum ewigen Stillhalten verdammt. Fünfmal die Woche muss der einst umtriebige Revolutionär und Gründer der Sowjetunion noch immer geduldig Audienz gewähren. Bis zu einer Stunde warten Reisende aus aller Welt bis heute, um ihn zu sehen: Lenin, das Original.